Zärtlichkeit

Eine Filmkritik von Sophie Charlotte Rieger

Wo keine Spannung aufgebaut werden soll, kann man sie nicht verderben

Man stelle sich folgendes Szenario vor: Exmann und Exfrau, seit vielen Jahren geschieden, müssen zusammen eine neunstündige Autofahrt unternehmen, um den gemeinsamen Sohn aus einem Krankenhaus abzuholen, wo er aufgrund eines Skiunfalls operiert wurde. Bei dieser Prämisse fallen jedem zahlreiche Verwicklungen, Streitigkeiten und Krisen ein, die die Handlung fortführen könnten. Doch in La tendresse passiert nichts von alledem.
Ich darf das sagen, da bin ich sicher. Marion Hänsel hätte nichts dagegen, dass ich ihren Film „spoilere“, denn der Begriff „Spoiler“ ist auf La tendresse gar nicht anwendbar. Wo keine Spannung aufgebaut werden soll, kann man sie nicht verderben. So einfach ist das.

Man fühlt sich fast ein bisschen verschaukelt von der Regisseurin und ihrem Film. Immer wieder deuten sich Katastrophen an, die dann nicht eintreten. So viele Steilvorlagen für dramatische Verwicklungen bleiben ungenutzt. Die Ehepartner müssen gemeinsam in einem Hotelzimmer übernachten. Nichts passiert. Die Frau nimmt auf der Rückreise, bei der sie den Kleinbus ihres Sohnes fährt, einen groß gewachsenen Anhalter mit, lässt ihn ans Steuer und schläft dann sogar noch ein! Nichts passiert. Es ist zum Haare raufen.

Wie der Titel eigentlich schön verrät, geht es hier eben nicht um Krisen, um Streit und Missgunst, sondern um Zärtlichkeit. Die Menschen in La tendresse sind durchgehend nett zueinander, die ehemaligen Eheleute inklusive. Schon als sich Lisa (Marilyne Canto) und Frans (Olivier Gourmet) das erste Mal treffen, um ihre gemeinsame Reise zu besprechen, erinnern ihre liebevollen Neckereien nicht an ein Scheidungspaar, sondern an alte und sehr vertraute Freunde. Sie kennen die Macken des Gegenübers und im Gegensatz zu früher sind sie nun in der Lage darüber zu schmunzeln. Selbst wenn sie unterschiedlicher Meinung sind, kommt es niemals zu einem Streit. Vielmehr können Lisa und Frans über sich und ihre Differenzen lachen. Der Umgang der beiden miteinander ist in der Tat zärtlich. Auch wenn sie nicht mehr miteinander leben, sind sie noch immer – wenn auch auf eine andere Weise – ein Liebespaar.

Dass die Menschen in La tendresse einander wohlgesinnt und hilfsbereit sind, ist schockierend, ja vielleicht ist La tendresse der skandalöseste Film des Jahres. So etwas haben wir noch nie gesehen! Wir sind an diese Art von Erzählung nicht gewöhnt, wissen damit nichts anzufangen. Tatsächlich zeigte sich das Publikum nach der Vorführung von La tendresse beim Filmfest Hamburg gespalten. Manch einer wollte dieser gleichförmigen Erzählung schlichtweg keine Daseinsberechtigung zusprechen. Warum sollte man dafür ins Kino gehen, gab ein Zuschauer zu bedenken.

Auf der einen Seite ist es erschreckend, wie sehr wir uns scheinbar wünschen, Not, Elend und Trauer im Kino zu sehen. Gleichzeitig sind es eben doch die Krisen, die einen Menschen, auf und jenseits der Leinwand, wachsen lassen und das Leben interessant machen. Doch während es auf der Handlungsebene des Road Movies La tendresse viel Bewegung gibt, herrscht bei den Charakteren Stillstand. Die Geschichte, die Marion Hänsel erzählt, ist minimalistisch und verzichtet gänzlich auf die klassische Drei-Akt-Dramaturgie mit ihren vorprogrammierten Höhe- und Wendepunkten. Im Gegensatz zu den bergigen Serpentinen, die Lisa und Frans auf dem Weg zu ihrem Sohn bezwingen müssen, erinnert die Handlung von La tendresse an einen dieser ewig geraden amerikanischen Highways durchs Nirgendwo. Das ist – bei aller Liebe für die Liebe – nicht sonderlich mitreißend. Und im Gegensatz zum ebenfalls eher handlungsarmen Vorgänger Schwarzer Ozean, der durch seine Ästhetik begeistern konnte, ist La tendresse auch auf visueller Ebene eher unspektakulär.

So schön der Gedanke auch ist, einfach mal eine Geschichte über das Gute im Menschen zu erzählen, so schwer zugänglich gestaltet sich das Ergebnis. Mit La tendresse ist es wie mit dem wahren Leben: Es braucht die Tiefpunkte, um die Höhepunkte schätzen zu können. Die zärtliche Beziehung zwischen Lisa und Frans, die anfänglich noch verzaubern kann, verliert mehr und mehr ihren Reiz und auch ihre Überzeugungskraft. Was zu Beginn noch Mut machen konnte, eigene Trennungskrisen zu einem Besseren zu wenden, erscheint plötzlich wie ein Märchen. Die Geschichte von der Zärtlichkeit des Menschen ist schön, aber eben leider nur eine Geschichte.

Zärtlichkeit

Man stelle sich folgendes Szenario vor: Exmann und Exfrau, seit vielen Jahren geschieden, müssen zusammen eine neunstündige Autofahrt unternehmen, um den gemeinsamen Sohn aus einem Krankenhaus abzuholen, wo er aufgrund eines Skiunfalls operiert wurde. Bei dieser Prämisse fallen jedem zahlreiche Verwicklungen, Streits und Krisen ein, die die Handlung fortführen könnten. Doch in „La tendresse“ passiert nichts von alledem.
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Meinungen

Snacki · 21.02.2014

Selten einen warmherzigeren Film gesehen. Schöne Kritik, trifft absolut in Schwarze. Denn tatsächlich ist man im Kino anderes gewohnt.