In Sarmatien

Eine Filmkritik von Bianka Piringer

Ein Sehnsuchtsort, der auf bessere Zeiten wartet

„Am Feuer hockt der Märchenerzähler, die nachtlang ihm lauschten, die Jungen zogen davon.“ So heißt es in dem Gedicht Anruf des 1965 verstorbenen deutschen Dichters Johannes Bobrowski, aus dem ein Ausschnitt am Ende dieses Dokumentarfilms rezitiert wird. Sein Autor Volker Koepp hat seit 1972 immer wieder Landschaften und Menschen in der länderübergreifenden osteuropäischen Region gefilmt, der Bobrowski den Namen Sarmatien gab. Jetzt spricht Koepp mit Einheimischen wieder über das Wegziehen – es ist das Thema, das die Leute am meisten beschäftigt. In Czernowitz, der Geburtsstadt Paul Celans, erzählt ihm ein Mann, dass 60 Prozent der jungen Menschen ins Ausland ziehen wollen. Und eine junge Frau namens Ana aus dem moldawischen Kischinau sagt, dass die Traditionen auf dem Land aussterben: Diejenigen, die sie weitergeben müssten, sind auf der Suche nach Arbeit längst fortgegangen. So knüpft Koepps In Sarmatien direkt an das Anliegen des Lyrikers Bobrowski an: die Aufmerksamkeit auf eine multiethnische Region lenken, die nicht zum ersten Mal vom großen Strom der Zeit zermahlen zu werden droht.
Aber was ist dieses Sarmatien eigentlich? Ein Begriff auf den antiken Landkarten der Griechen und Römer, den Bobrowski und nach seinem Beispiel auch Koepp für ein Gebiet östlich der Weichsel von der Ostsee bis zum Schwarzen Meer wiederverwendet. Darauf erstrecken sich heute die Republik Moldau, Weißrussland, Litauen und die Ukraine, die russische Enklave Kaliningrad. Es darf also bezweifelt werden, dass es bei solch einer Ausdehnung positiv formulierbare Gemeinsamkeiten gibt. Im Negativen drängen sie sich eher auf: Der Holocaust zog über das Gebiet hinweg und Stalins Regime, die Grenzen und selbst die Sprachen wechselten bis in die 1990er Jahre hinein. Sarmatien ist also ein Ort, an dem Geschichte erlitten wird, der Ort, der bleibt, wenn sich die Gesetze ändern. Koepp hat in früheren Filmen wie zum Beispiel Kalte Heimat oder Herr Zwilling und Frau Zuckermann, aus denen er auch hier Ausschnitte zeigt, alte Menschen porträtiert, Überlebende von Terror, Hunger und Verfolgung. Diesmal spricht er hauptsächlich mit jungen Frauen, die im Berufsleben stehen. Selbst diejenigen unter ihnen, die im Ausland arbeiten, hängen an der geliebten Heimat und verstehen sie als Teil von Europa. In der Ukraine, in Weißrussland hört Koepp oft den Wunsch nach Anschluss an die europäische Demokratie, nach Meinungsfreiheit, Bürgerrechten.

Tanja, die heute mit Mann und Kindern in Jena wohnt, besucht mit Koepp ihre Eltern und Verwandten in der Ukraine. Ihre Cousine auf dem Land erzählt, dass sie ihren kleinen Sohn alleine großzieht, und seit sechs Jahren auch die Nichte. Ihr Mann und ihre Geschwister sind zum Arbeiten in den Westen gezogen. Ana sagt, in Moldawien wachse eine ganze Generation Kinder ohne Eltern auf. Wenn Koepp Tanja, Ana und der Kaliningraderin Elena zuschaut, wie sie ihre Gedanken und Gefühle sortieren, um passende Formulierungen ringen, entstehen manchmal sehr intensive Momente: Was Heimat bedeutet, zeigt sich dann in den Gesichtern, die Stolz und Melancholie ausdrücken, Bedauern und immer wieder auch Aufbruchstimmung.

Über das Lebensgefühl der Menschen, das in der Gemeinschaft entsteht, beim Diskutieren oder Arbeiten, hätte man gerne mehr erfahren. Aber Koepps Dokumentation erforscht die Wirklichkeit sehr indirekt, durch Brechungen und Interpretationen. Auch suggeriert sie sehr stark die Verlorenheit, Vereinzelung der Menschen. Sarmatien ist der Sehnsuchtsort, zu dem die wehmütigen Akkordeonklänge passen, die Koepps Reisebilder immer wieder begleiten. Die Kamera forscht in der Weite der Ebenen mit ihren Pferdewagen und Ziehbrunnen, betrachtet Flüsse, sanfte Hügelketten und zieht durch altehrwürdige Städte mit verfallenden Häusern. Mit seiner dichten Atmosphäre und seiner lyrischen Färbung ist der Film eine Hommage an eine mystische Region, deren Menschen es auf jeden Fall verdient hätten, stärker ins europäische Bewusstsein zu rücken – zum Beispiel durch mehr informative Dokumentationen.

In Sarmatien

„Am Feuer hockt der Märchenerzähler, die nachtlang ihm lauschten, die Jungen zogen davon.“ So heißt es in dem Gedicht „Anruf“ des 1965 verstorbenen deutschen Dichters Johannes Bobrowski, aus dem ein Ausschnitt am Ende dieses Dokumentarfilms rezitiert wird. Sein Autor Volker Koepp hat seit 1972 immer wieder Landschaften und Menschen in der länderübergreifenden osteuropäischen Region gefilmt, der Bobrowski den Namen Sarmatien gab.
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