Shrew's Nest

Eine Filmkritik von Patrick Wellinski

Die Geburt eines Sterns

Familien waren immer schon dankbare Mikrosysteme, in denen sich die vorzüglichsten Dramen, Tragödien und Komödien erzählen ließen. Seltsam, dass etwas, das jeder von uns kennt, derartige Anziehungskräfte entwickeln kann. Vor allem wenn es um die Abgründe vermeintlicher Freude und des unantastbaren Glücks geht. Da zeigt sich, häufig genüsslich in Form des Horrorfilms, dass jede Familie ihre Leiche im Keller hat.
Das ist auch der Ausgangspunkt für die beiden Regisseure Juanfer Andrés und Esteban Roel in ihrem Debüt Shrew’s Nest. Hinter ihnen steht der große Brachialmetaphern-Spezialist des spanischen Kinos Álex de la Iglesias, der die beiden protegiert. Dabei ist der Film zu großen Teilen weit weg von jener Deutlichkeit, die Iglesias in seinen Filmen so erfolgreich walten lässt. Und das tut dem Stoff sehr gut, denn nichts wäre fataler, wenn Andres und Roel sich nur als Kopisten des Meisters empfinden würden. Denn das junge Regieduo, das es schließlich geschafft hat, mit einem Kurzfilm (036) knapp 2 (!) Millionen Zuschauer ins Kino zu locken, verfügt über ein großes Talent, dem gothic horror ein sehr modernes Gewand zu verleihen.

Montse (Macarena Gómez) leidet an Agoraphobie und kann ihre Wohnung in Madrid der 1950er Jahre nicht verlassen. Es ist ein Ort der Tragödien ihres Lebens. Die Mutter stirbt bei der Geburt der jüngeren Schwester (sie bleibt ohne Namen, gespielt wird sie von Nadia de Santiago), für die Montse seither Ersatzmutter ist – und für den strengen Vater sogar die Ersatzfrau. Der Film selbst erzählt das in einer sehr raffinierten Montage und setzt dann am 18. Geburtstag der jüngeren Schwester ein, die regelmäßig die Wohnung verlässt und zu Montses Bestürzen regelmäßig auch Männer trifft. Als der Nachbar Carlos (Hugo Silva) auf der Flucht direkt vor der Haustür verunglückt, beginnt Montse ihn zu pflegen. Die Zuneigung, die sie für ihn empfindet, bringt allerdings eine grausame Spirale der Gewalt in Bewegung, die nicht nur das Franco-Spanien und die katholische Kirche ins Visier nimmt, sondern beide Schwestern in die Abgründe ihrer Familiengeschichte führt.

Laut Guillermo del Torro (selbst Mexikaner) sind die Spanier dazu verdammt, Filme wie Shrew’s Nest zu machen, weil die unheilige Mischung aus Franco-Faschismus, der Inquisitionsgeschichte der katholischen Kirche und der gotischen Horrorliteratur (die hier so populär war wie sonst nirgendwo in Europa) einen Regisseur geradezu zwingen, die Verfehlungen der spanischen Geschichte im Genrekino auf- und abzuarbeiten. Fast jeder Film wird so zu einer Art Exorzismus, nach welchem es sich zumindest ein bisschen besser atmen lässt.

Um die Metaebene in die Bilder des Films zu überführen: Roel und Andres konzentrieren sich zunächst sehr genau auf die Beziehung der beiden Schwestern. Montse erscheint als alte Jungfer, die zu früh erwachsen werden musste und ihre jüngere Schwester nicht nur über Gebühr bemuttert, sondern insgeheim beneidet, da diese all das auslebt, was Montse selbst durch ihre Agoraphobie nicht machen kann. Immer wieder vermittelt sie ihr Schuldgefühle, da die Mutter schließlich bei ihrer Geburt gestorben sei. Ein Narrativ, das erstaunliche Wirkung zeigt und erklärt, warum Montses Schwester nicht einfach davonläuft. Das Erscheinen von Carlos führt zu unterschiedlichen Bewegungen der Frauenfiguren: Während Montse auf Erlösung hofft, träumt ihre Schwester von der Freiheit. Doch als Montse Anflüge von Cathy Bates in Misery bekommt und deutlich macht, dass sie Carlos niemals gehen lassen wird, eskaliert die Situation und entlädt sich in wahnwitziger Gewalt, die den Einfluss von Alex de la Iglesias nicht verbergen kann. Dabei hat der Film das gar nicht nötig. Im Unterstrom schwebt nämlich eine tragische Familiengeschichte mit, die das ganze Drehbuchkonstrukt ohne Probleme getragen hätte. Vielleicht wäre es besser gewesen, sich gar nicht so sehr unter die Leitung von Iglesias zu begeben? Hinzu kommt, dass die Art, wie die beiden Jungregisseure den engen Raum der Wohnung, in dem der Film fast die ganze Zeit spielt, als Spielfläche für ihre Story inszenieren, sehr komplex ist und zeigt, welches Talent in den beiden schlummert.

Und dann war dann noch Macarena Gómez. Manchmal – vielleicht ja nur für den deutschen Zuschauer – erinnert Gómez mit ihren großen Augen an Nina Hoss. Aber eben nur fast. Denn in Gómez‘ Blick ist eben nicht nur geisterhafte Leere, es findet sich darin die ganze Palette der weiblichen Empfindungen. Sie trägt eine Trauer und eine Verzweiflung in sich, die immer menschlich ist, auch wenn sie der Plot in den Bereich der Unmenschlichkeit rückt. Es ist ein Parallelspiel, dem wir hier beiwohnen. Während das Drehbuch ihre Montse immer wagemutiger in den Abgrund schiebt, kämpft Gomez gegen diese Bewegungen an. Absicht oder Zufall? In jedem Fall eine schauspielerische Glanzleistung, die sich in kleinsten Gesten manifestiert: der ständig hilflose Griff zum Kruzifix am Hals; die angelockten Haare; die ständig gefasste Körperhaltung, die immer Fassade ist und bei der man die Anstrengung und Abnutzungserscheinungen ständig erahnt.

Gómez entzieht so ihre Figur der billigen Trauer und des effekthascherischen Schocks. Darin liegt die fast schon vergessene Kraft des Filmschauspiels. Gómez lässt so auch eine Tradition aufleben, die lange zurückreicht – vor allem im europäischen Kino. Wem Shrew’s Nest zu bitter oder zu konstruiert vorkommt, der wird dennoch unumwunden zugeben müssen, dass wir durch diesen Film wieder einmal jenen Moment erleben, der das Kino so groß macht. Der Moment: A star is born. Und dieser Stern heißt diesmal: Macarena Gómez. Möge er uns lange mit dieser Strahlkraft erhalten bleiben.

Shrew's Nest

Familien waren immer schon dankbare Mikrosysteme, in denen sich die vorzüglichsten Dramen, Tragödien und Komödien erzählen ließen. Seltsam, dass etwas, das jeder von uns kennt, derartige Anziehungskräfte entwickeln kann. Vor allem wenn es um die Abgründe vermeintlicher Freude und des unantastbaren Glücks geht. Da zeigt sich, häufig genüsslich in Form des Horrorfilms, dass jede Familie ihre Leiche im Keller hat.
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