In the Crosswind

Eine Filmkritik von Kirsten Kieninger

Tableaus einer Säuberung

Ein Drehtag pro Einstellung, mehrere Monate Vorbereitung für jede einzelne dieser Einstellungen, eine nach der anderen innerhalb von 3 Jahren abgearbeitet und gedreht. Die Entstehungsgeschichte von In the Crosswind ist außergewöhnlich – das Ergebnis ist es auch. Ambitionierter kann ein erster abendfüllender Spielfilm kaum sein, doch der estnische Regisseur Martti Helde, der bisher nur einige Kurzfilme vorzuweisen hat, zeigt sich der Mammutaufgabe, die er sich als Debüt vorgenommen hat, gewachsen. Mit In the Crosswind hat er ein wuchtiges, sensibles und ergreifendes filmisches Denkmal geschaffen für die Opfer der ethnischen Säuberung im Baltikum durch die Sowjets im Jahre 1941.
Der Film bebildert die Geschichte von Erna (Laura Peterson), einer jungen Philosophiestudentin, die während der Deportation von ihrem Mann getrennt wird und im sibirischen Gulag eine qualvolle Zeit durchlebt… Dieser Satz beschreibt zwar faktisch korrekt, worum es geht, verfehlt allerdings völlig den künstlerischen Kern dieses Films. Der Film schafft Bilderwelten, die die authentischen Tagebucheinträgen einer Überlebenden als ein Stück Zeitgeschichte in visuelle Tableaus übersetzen, in denen die Zeit des Schreckens geronnen zu sein scheint; durch die sich die Kamera in Zeitlupe bewegt, wie in einem Alptraum; die den Zuschauer eintauchen lassen in den emotionalen Ausnahmezustand, von dem die Stimme Ernas aus dem Off berichtet. Diese Beschreibung wird der Seherfahrung eher gerecht.

In the Crosswind ist eine wirklich monumentale Seherfahrung. Monumental nicht im Sinne von „bombastisch“, sondern tatsächlich wie ein Monument. Szenen, (Seelen-)Zustände und Beschreibungen aus dem Tagebuch kristallisieren sich in schwarz-weißen Tableaus in denen alles erstarrt zu sein scheint. Der Begriff „Tableau“ beschreibt es eigentlich nicht richtig, denn die Bilder sind keine Totalen, auf die der Zuschauer schaut. Die einzelnen Einstellungen sind Massenszenen wie aus einem Bruegel-Gemälde, allerdings schwarz-weiß, desolat und düster. In ihrer Ästhetik erhabene Bilder, die gekoppelt mit den Worten der Zeitzeugin emotional herunterziehen in die Schrecken vergangener Zeit, die vor den Augen des Zuschauers gerinnen.

Für jede einzelne Szene hat der Regisseur Stellpläne für Darsteller und Statisten angefertigt, die Gesten, Gesichtsausdrücke und Körperhaltungen wurden genauestens choreografiert. Schließlich harren die Darsteller wie erstarrt aus, die Kamera gleitet zwischen ihnen hindurch und erkundet schlafwandlerisch die Szenerie. Für den Zuschauer vermittelt sich ein Gefühl, als befinde er sich mitten in diesem Alptraum, mitten in einer Szene, die sich Erna ins Gedächtnis eingebrannt hat.

Als Zuschauer hat man am Ende einen handwerklich großartigen, inhaltlich zutiefst deprimierenden Film gesehen. Also einen Film, der seinem Thema in jeder Hinsicht gerecht wird – was so nicht von Anfang an absehbar ist. Denn wenn der Film in der familiären Idylle in Estland seinen Auftakt nimmt, dann weht mit dem Wind um die Obstbäume und der zarten Frauenstimme aus dem Off zunächst ein Hauch Terrence Malick herüber, der dann auf die Schwere von Béla Tarr trifft, und irgendwie wirken Andrej Tarkowski und Alexander Sokurow auch nicht weit entfernt. Sprich: in den ersten Minuten von In the Crosswind hat man als Cineast ein wenig Angst, das sich hier ein ambitioniertes Vorhaben ins Manierierte verkünstelt. Doch Martti Heldes Debütfilm entwickelt sich tatsächlich zu etwas ganz Eigenem, ein wirklich außergewöhnlicher Film der für sich steht – und für die über 40.000 Menschen aus Estland, Litauen und Lettland, die den sowjetischen Säuberungen zum Opfer gefallen sind.

In the Crosswind

Ein Drehtag pro Einstellung, mehrere Monate Vorbereitung für jede einzelne dieser Einstellungen, eine nach der anderen innerhalb von 3 Jahren abgearbeitet und gedreht. Die Entstehungsgeschichte von „In the Crosswind“ ist außergewöhnlich – das Ergebnis ist es auch. Ambitionierter kann ein erster abendfüllender Spielfilm kaum sein, doch der estnische Regisseur Martti Helde, der bisher nur einige Kurzfilme vorzuweisen hat, zeigt sich der Mammutaufgabe, die er sich als Debüt vorgenommen hat, gewachsen.
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