Nine Days and One Morning

Eine Filmkritik von Joachim Kurz

Eine russische Landpartie

Man kommt bisweilen nicht aus dem Staunen heraus, was für ein Käse einem auf Festivals als sehenswert feilgeboten wird und was andererseits dort keinerlei Beachtung findet. Im Falle des russischen Bauernschwanks Nine Days and One Morning müssen es wohl die hübschen Augen der Hauptdarstellerin gewesen sein – anders ist es jedenfalls kaum zu erklären, dass diese seichte Komödie beim diesjährigen Internationalen Filmfestival Mannheim-Heidelberg in den Genuss einer Sondervorführung kam.
Umso bedauerlicher ist dies, weil es mit Andrey Zviagintsevs Leviathan und Aleksei Germans Es ist schwer, ein Gott zu sein gleich (mindestens) zwei starke und aktuelle russische Filme gibt, die eine Sondervorführung wesentlich mehr gerechtfertigt hätten als Vera Storozhevas vermeintlich gut gelaunte Selbstfindungsmär: Sowohl ästhetisch als auch erzählerisch trennen die beiden genannten Werke und die ärgerliche Landluft-Schmonzette gleich etliche Welten. Nine Days and One Morning ist als Repräsentant eines künstlerisch wie inhaltlich wagemutigen russischen Kinos in etwa so eine exzentrische Auswahl, als käme jemand auf die Idee, Til Schweigers Komödien als Musterbeispiel des politischen Kinos in Deutschland im historischen Kontext der Wiedervereinigung anzupreisen.

Der Titel des Films fungiert dabei — wie schon in Michael Winterbottoms 9 Songs oder Dietrich Brüggemanns 9 Szenen – als Zeitangabe und Offenlegung der Grundstruktur, wobei man freilich nicht den Fehler machen sollte, die beiden genannten in irgendeiner Form als konstituierend für die Qualität von Storozhevas Werk zu betrachten. Denn auch hierin liegen Welten und künstlerische Distanzen, die ungefähr der Reichweite einer russischen Langstreckenrakete entsprechen.

Apropos Geschoss: Eine echte Granate ist auch die Hauptfigur Anna (Anna Sherbinina), die als Model in Paris arbeitet und die für einige Tage in ihre russische Heimatstadt zurückgekehrt ist. Dort besucht sie im Rahmen einer Charity-Tour für eine Stiftung unter anderem das Waisenhaus, in dem sie einst aufwuchs und aus dem heraus sie dank ihrer französischen Adoptiveltern den Weg in den Westen unternehmen konnte. Während der titelgebenden neun Tage verstrickt sie sich nun erneut in die mühsam abgestreifte russische Identität und in alte Bindungen, die sie weit hinter sich gelassen glaubte. Hinzu kommen alkoholinduzierte amouröse Verstrickungen, eine sich überraschend offenbarende Schwester (Olga Popova), ein kleines Mädchen, das wie sie vom Weg in den Westen träumt und all die Erwartungen, die an sie, das scheinbar glückliche Model aus der Weltstadt Paris, geknüpft sind. Und so stöckelt sie über die staubigen und matschigen Straßen der alten Hauptstadt, immer hin- und hergerissen zwischen dem neuen Leben (versinnbildlicht durch ihren beknackten Fotografen-Verlobten Michel) und der (russischen) Seele, die – ach – in ihrem Herzen schlummert.

Ähnlich wie seine zunehmend verunsicherte Protagonistin schlingert und stakst auch der Film selbst auf unbestimmten Pfaden durch die morastig-schlüpfrigen Pfade, die das Drehbuch recht unansehnlich und unentschlossen vorbereitet hat. Bisweilen gerät die Demontage der westlich-verkommenen Welt gegenüber dem beschaulich-russischen Landleben (inklusive folkloristisch verhohnepipeltem Afghanistan-Veteran – welch schlechter Scherz, einen Kriegstraumatisierten derart als Dorfdeppen vorzuführen) derart platt (inklusive der durch Honigwein beflügelten körperlichen Annäherung), dass man sich eher in einem von einer Laientheatertruppe selbstgezimmerten Schwank unterster Unterhaltsamkeitsgüte wähnt. Oder um es noch ein wenig deutlicher zu sagen: Gülle ist in diesem Film nicht nur visueller Zierrat, sondern auch inhaltlich leider im Übermaß vorhanden. Nichts gegen eine gewisse Erdigkeit, hier allerdings gerät die Kontrastierung von Landleben und städtischer Dekadenz dann aber doch viel zu plakativ und schlicht.

Solche Schlichtheit dürfte wohl vor allem patriotisch gesinnten Verfechtern der russischen Landluft gefallen — und vielleicht noch jenen Mitgliedern der Generation 60+, die in der dekadenten Großstadt sowieso die Wurzel allen Übels sehen und sich stattdessen lieber in einen durch Landlust genährten Eskapismus flüchten. Dem Rest hingegen sei von dem dünnen Werk eindringlichst abgeraten. Und die Aussicht, sich den Film anschließend mit reichlich Wodka schöntrinken zu können, gehört wohl ebenso ins Reich der Legenden verwiesen wie die mühevolle Rumdeutelei, Nine Days and One Night habe irgendetwas Bedeutsames über verlorene Wurzeln und den schmerzhaften Prozess des Aussöhnens mit der eigenen Vergangenheit zu tun.

Nine Days and One Morning

Man kommt bisweilen nicht aus dem Staunen heraus, was für ein Käse einem auf Festivals als sehenswert feilgeboten wird und was andererseits dort keinerlei Beachtung findet. Im Falle des russischen Bauernschwanks „Nine Days and One Morning“ müssen es wohl die hübschen Augen der Hauptdarstellerin gewesen sein.
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