Overgames

Eine Filmkritik von Harald Mühlbeyer

Eine Zustandsbeschreibung der Welt als Gameshow

Ein gewaltiges Projekt. Nicht viel weniger als eine Zustandsbeschreibung der Welt gibt Lutz Dammbeck in Overgames, auf spielerische, assoziative, weitschweifige und doch konzentrierte Weise. Drei Geschichten erzählt er in einer, die kleine über die Frage, inwieweit Spiele von Gameshows ursprünglich für Psychiatriepatienten entwickelt wurden, eine größere über die Re-Education der Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg und schließlich die Ideengeschichte einer permanenten Revolution, in der Wissenschaft und Vernunft, Wahrheit und Gleichheit walten, die Einheit und Freiheit und Friede auf der ganzen Welt, sprich: das Paradies zum Ziel hat.
Anfang 2005 sah Dammbeck im Fernsehen eine Talkrunde um Anne Will: Alfred Biolek, Rudi Carrell, Hape Kerkeling und so weiter redeten über Gameshows, und was Joachim Fuchsberger sagte, blieb bei Dammbeck hängen: Die Paar-Spiele von Nur nicht nervös werden, Anfang der 1960er im deutschen Fernsehen, seien beim Original-Showkonzept aus den USA namens Beat the Clock aus dem psychiatrischen Umfeld übernommen worden, wo sie in der Therapie für Irre genutzt wurden. Wer schaute also Nur nicht nervös werden? Eine Nation von Verrückten. Dammbeck forscht nach. Dammbeck spricht mit Showproduzenten und Spieleerfindern in den USA. Dammbeck gerät an ein Buch von Richard M. Brickner aus dem Jahr 1943, in dem dieser für die deutsche Nation die Diagnose hochgradiger Paranoia diagnostiziert: Ein Volk, das sich von allen Seiten stetig angegriffen fühlt, das nie zu einer wirklichen Identität gefunden hat, das deshalb seine Aggressionen kultiviert und in die Welt hinausträgt. Ein Volk als Patient, der geheilt werden muss: Der Weg zu einer neuen Friedensordnung nach dem Krieg kann da nur über die Heilung, über die Umerziehung, über die Hinführung zu neuem, anderem, nicht schädlichem Verhalten führen. Ein Verhalten, das sich an die Norm anpasst — was aber ist die Norm? Die Norm ist das amerikanische Selbstverständnis von Normalität, das wiederum historisch zurückgeht auf das Konzept der permanenten liberalen Revolution; nachzulesen in der Erklärung der Menschenrechte oder in der US-Unabhängigkeitserklärung. Von Englands „glorious revolution“ über die Aufklärung und die französische Revolution reichen die Wurzeln, aus denen die Vereinigten Staaten von Amerika herauswuchsen: ein Staat, in dem sich in Demokratie und Freiheit der Gedanke der Brüderlichkeit gefestigt hat. Ein Staat, der diese Werte in die Welt hinauszutragen als seine göttliche Mission begreift. Deutschland, die kranke Nation, die umgebildet, umgestaltet werden soll, kann als Experimentierfeld genutzt werden, die Deutschen nach dem Krieg sind die Labormäuse für die Ideen, in denen sich die Philosophie der Revolution mit Psychologie, Anthropologie und Soziologie zu einer politischen Kraft vereinen.

Dammbeck spielt mit diesen Gedanken. Er zeigt sich selbst bei der Recherche, führt den Zuschauer entlang der Argumente, unternimmt kleine Abschweifungen, findet neue Zusammenhänge, deutet weiterführende Pfade an — in einem langen, essayistischen Kommentar fügen sich die Elemente zusammen. Und im Film verbinden sie sich mit den Bildern, die Dammbeck findet, eine Art Collage aus Archivmaterialien, in denen psychiatrische Behandlungen und Der Preis ist heiß, Naziaufmärsche, Stammestänze aus Bali und Robespierres pseudoreligiöse Festspiele der Revolutionszeit eine Verbindung eingehen. Der Zuschauer muss sich konzentrieren. Ja: Man muss sich anstrengen — wird aber auch mit vielen Ein- und Ansichten belohnt.

Ernsthafte Darlegungen — die Dammbeck aber immer im Modus des Spielens belässt. Das Zusammenführen von Ideen und Tatsachen und Argumenten ist als eine Art Experiment aufgefasst, bei dem der Zuschauer den Filmemacher (und Denker) beobachtet. Ein Spiel auch mit der Paranoia — wenn die neue psycho-sozio-anthropologische Wissenschaft um Margaret Mead und Richard Brickner in ihren Forschungen und Publikationen eine paranoide Angst vor der Paranoia im eigenen Volk entwickeln, oder auch, wenn Dammbeck selbst auf fast paranoide Weise eine Art Masterplan andeutet, die Deutschen per Gameshows umerziehen zu wollen. Was sich dann aber fast selbstironisch — aber nicht als Witz erzählt — in nichts auflöst, weil keiner der Gesprächspartner, die sich ja auskennen müssten in der Praxis und Theorie von Spielshows, je etwas über die Ideenfindung in den Irrenhäusern Amerikas gehört hat.

So erzählt Dammbeck uneingeschränkt Wichtiges; er schildert das Werden der Welt, wie wir sie kennen, mit globaler Medienflut und globalem Konsumdurst, die letztendlich dem Ideal einer permanenten Revolution hin zu einer einigen Universalcommunity nahe kommt; unter amerikanischen Vorzeichen. Und nimmt sich zugleich sympathisch zurück, in einer sanften Art lässt er durchblicken, dass das letzte Wort sowieso nicht gesprochen ist. Insbesondere, da Herr Fuchsberger sein Geheimnis ins Grab genommen hat, wo denn nun tatsächlich diese Spiele herstammen und zu welchem Zweck sie eingesetzt wurden.

Overgames

Ein gewaltiges Projekt. Nicht viel weniger als eine Zustandsbeschreibung der Welt gibt Lutz Dammbeck in „Overgames“, auf spielerische, assoziative, weitschweifige und doch konzentrierte Weise.
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Meinungen

Amon · 07.12.2021

Ich habe den Film gerade gesehen und bin überrascht eine solch wohlwollende Kritik hier zu finden. Dammbecks Film "das Netz" ist einer meiner Lieblingsfilme... Overgames lies mich etwas ratlos zurück, das Nichts am Ende ist tatsächlich weder humorvoll noch sonst irgendwas... ich habe den Film gerne gesehen, aber eigentlich hat er leider nicht wirklich etwas zu sagen... er stellt nur viele Fragen und regt zum nachdenken an.