Kleine graue Wolke

Eine Filmkritik von Bianka Piringer

"Die Krankheit mit den 1000 Geschichten"

Eine junge Frau, die Medienproduktion studiert, wird plötzlich mit der Diagnose Multiple Sklerose konfrontiert. Der Arzt meint, nun sei auf ihrem blauem Himmel eine „kleine graue Wolke“ aufgezogen, doch für sie ähnelt der Schock einem pechschwarzen Gewitter. Sie fühlt sich aus der Bahn des Lebens geworfen, hat Angst, was die Krankheit physisch, geistig mit ihr machen wird. Mit ihren Beschwerden, Stimmungstiefs und drängenden Fragen will sie die Eltern nicht belasten. Sie weiß auch nicht, ob und wie offen sie andere über die Krankheit, die sich akut in Finger- und Fußkribbeln und schneller Ermüdung äußert, informieren will. Die Studentin sucht den Kontakt zu Betroffenen und öffnet sich damit das Tor zu spannenden Erkenntnissen.
Sabine Marinas Dokumentarfilm Kleine graue Wolke über ihre ersten seelischen Gehversuche mit der Diagnose Multiple Sklerose ist zugleich ihre Bachelorarbeit an der Uni. „Nie zuvor habe ich so sehr gespürt, wie man mit einem Film Hilfe, Hoffnung und Gemeinschaft geben kann“, sagt die Regisseurin, die mit ihrer neuen Produktionsfirma noch mehr Menschen mit MS porträtieren will. Hilfe und Hoffnung erfährt sie in den Begegnungen mit Katharina, Beate, Peggy, Silke und Peter und den Teilnehmern eines Seminars vor allem selbst. Soll man Medikamente nehmen? Kann man mit MS im Beruf erfolgreich sein, für Kinder sorgen? Wie geht man mit Schwäche um, mit Schüben, wie gelingt es, nach vorne zu schauen? Und wie ist es, im Rollstuhl zu sitzen und gepflegt zu werden? Die unheilbare Autoimmunerkrankung Multiple Sklerose wird, wie der Abspann informiert, auch als „Krankheit mit den 1000 Gesichtern“ bezeichnet, denn ihr Verlauf ist individuell und nicht vorhersagbar. Die Filmemacherin nennt sie also auch „die Krankheit mit den 1000 Geschichten“.

Auf einmal ist nichts mehr sicher. Sabine Marina wird von einem Bekannten gefragt, ob sie schon einen Behindertenausweis hat. Und sie fragt sich selbst vor einem Besuch bei Erkrankten, ob es in solch einem Gespräch Tabus zu beachten gilt. Die eigene Irritation und daraus erwachsende Sensibilität dient der Filmemacherin als Leitfaden. Ihre Selbsterkundung und die Erzählungen ihrer Gesprächspartner bieten dem Zuschauer völlig neue Einsichten. Die Gespräche sind geschickt und unaufdringlich choreografiert. Wer nicht im Bild erscheinen möchte, ist nur zu hören. Denn die Kamera ruht auf Sabine Marinas Gesicht, auf dem sich die Wirkung des Gehörten zeigt. Die Dialogsituation wird sehr lebendig eingefangen und die Erzählungen verdichten sich zu überraschenden emotionalen Höhepunkten. Immer wieder erstaunt es, wie offen die Menschen ihren inneren Aufruhr reflektieren und zuweilen auch sagen, die Krankheit habe ihnen eine Weiterentwicklung ermöglicht. Die erhöhte Achtsamkeit, über die verfügen, teilt sich jedenfalls eindrucksvoll mit. Sabine Marina fühlt sich in ihrer Hoffnung bestärkt, dass sie selbst einen gewissen Einfluss auf den Verlauf der MS haben könnte.

Die Filmemacherin stellt auch die visuelle Gestaltung und die Tonspur kreativ in den Dienst ihrer Entdeckungsreise. Sie spielt mit Echos und Ton-Überblendungen, Stummszenen, akustischen Verzerrungen. Dann wieder erklingt, die oft zarte Musik von Julia Bossert — und Marinas nüchterner, ruhiger Voice-Over-Kommentar. Sie sieht einmal die Menschen auf einer Party wie in Trance, oder kämpft sich durch einen Albtraum, in dem sie beim Joggen durch den Wald plötzlich auf Stock und Rollator angewiesen ist. Dann liegt sie ausgestreckt im dunklen Schlick des Wattenmeers, wie um zu prüfen, ob es hinter den gewohnten Vorstellungen von Trauer noch etwas anderes gibt. Der sinnliche, sensible Prozess, den dieser Film aufzeigt, belohnt den Zuschauer mit Momenten tief empfundener Wahrhaftigkeit.

Kleine graue Wolke

Eine junge Frau, die Medienproduktion studiert, wird plötzlich mit der Diagnose Multiple Sklerose konfrontiert. Der Arzt meint, nun sei auf ihrem blauem Himmel eine „kleine graue Wolke“ aufgezogen, doch für sie ähnelt der Schock einem pechschwarzen Gewitter. Sie fühlt sich aus der Bahn des Lebens geworfen, hat Angst, was die Krankheit physisch, geistig mit ihr machen wird.
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