Im Lauf der Zeit (1976)

Eine Filmkritik von Marie Anderson

Montag, 3. August 2015, ARTE, 22:10 Uhr

Ein Drehbuch im herkömmlichen Sinne gab es für diesen Film nicht. Die grandiose erste Szene nach dem Prolog war zwar bereits gründlich fixiert, doch darüber hinaus ließ Wim Wenders die Geschichte schlicht laufen, und sie läuft verdammt gut. Nach anfänglichen abendlichen Besprechungen mit den beiden Hauptcharakteren und letztlich im Alleingang entwickelte der Regisseur sein Roadmovie Im Lauf der Zeit sozusagen unterwegs, zwischen Lüneburg und Hof entlang der damaligen deutsch-deutschen Grenze, wo er mit seiner Crew und dem alten Möbelwagen quasi als drittem Darsteller innerhalb von elf Wochen den Film mit Kameramann Robby Müller und seinem Kollegen Martin Schäfer drehte. Herausgekommen ist dabei ein ebenso charmantes wie authentisches Liebhaberstück, das trotz reichlicher Improvisation erstaunlich stimmig sowie visuell äußerst anregend inszeniert ist. Der Film läuft bei ARTE innerhalb einer Hommage an den Regisseur, der am 14. August dieses Jahres siebzig Jahre alt wird. 



Dass Robert (Hanns Zischler) von seinem zeitweiligen Gastgeber Bruno (Rüdiger Vogler), der ihn für eine Weile in seinem mobilen Heim beherbergt, Kamikaze genannt wird, resultiert aus ihrer ersten Begegnung. Als Bruno eines Tages in seinem ausgedienten Möbelwagen, in dem er lebt und über die Dörfer zieht, seine Morgentoilette verrichtet, wird er Zeuge, wie Robert mit seinem VW Käfer geradewegs in die Elbe rast. Tropfnass wieder an Land findet er bei Bruno Unterschlupf, der in den kleinen Orten auf seiner Route Filmprojektoren repariert, dem unaufhaltsamen Aussterben der Kleinstadtkinos trotzend. Ganz unspektakulär gestaltet sich das zunehmend vertrauliche Zusammensein der beiden völlig unterschiedlichen Männer, die eine Wegstrecke gemeinsam zurücklegen, und genau in dieser unsentimentalen Gelassenheit liegt die große Stärke dieses langsamen Films, dessen kunstvolle Schwarzweißbilder den Zuschauer ohnehin zu längerem Verweilen verführen.

Im Lauf der Zeit, eine zarte bis zärtlich-zynische Reminiszenz an vergangene Kinodimensionen als verschwindende Phänomene, lief 1976 im Wettbewerb der Filmfestspiele von Cannes und wurde dort mit dem FIPRESCI-Preis ausgezeichnet. Im ebenso spannenden wie amüsanten Audiokommentar, der sich als Extra auf der DVD findet, erwähnt Wim Wenders eine kleine Anekdote zur bedeutenden Teilnahme an diesem Festival der Festivals, nach der er aufgefordert wurde, eine pikante Szene von Rüdiger Vogler herauszuschneiden, die eine ganz spezielle kleine Geschichte im Zuge der Dreharbeiten und beim Schnitt des Films hat. Doch der Filmemacher weigerte sich erfolgreich, so dass der Zuschauer nun die Authentizität des praktisch auf Kommando kackenden Akteurs beschmunzeln kann.



Neben der schlicht ungeschnörkelten charismatischen Grundstimmung des Films sind es die kleinen bezaubernden Höhepunkte, die begeistern, wie etwa der melancholische Gastauftritt von Marquard Bohm, der ein Meister der Verkörperung schräger Figuren ist. Gestaltet sich die Rede auch überwiegend gekonnt banal, mündet sie doch vereinzelt in pointierte Dialoge, die ein ganzes Universum an angedeuteter Komplexität transportieren: „Du brauchst mir nicht deine Geschichten zu erzählen.“ „Was willst du denn wissen?“ „Wer du bist.“ „Ich bin meine Geschichten.“
 

Im Lauf der Zeit (1976)

Ein Drehbuch im herkömmlichen Sinne gab es für diesen Film nicht. Die grandiose erste Szene nach dem Prolog war zwar bereits gründlich fixiert, doch darüber hinaus ließ Wim Wenders die Geschichte schlicht laufen, und sie läuft verdammt gut.

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Meinungen

Emilio · 09.08.2015

Wenders ist und bleibt der größte, was in dem Film steckt ist nicht nur Männerfreundschaft und Kinosterben sondern das ganze leben. Zum Geburtstag ein Hoch auf diesen Regisseur mit Seele der noch ein paar gute Filme machen soll!!!