Frenzy (2015)

Eine Filmkritik von Joachim Kurz

Dröhnende Echos der Wirklichkeit

Man glaubt es kaum, dass Emin Alpers Film Abluka — Jeder misstraut jedem bereits zwei Jahre alt ist. Zwar ist das, was der Film zeigt, auch angesichts des rasanten Wandels der Türkei hin zu einem autoritären Staat immer noch eine erschreckende Dystopie. Doch zugleich zeigt die Realität deutlich, wie nahe sie schon an das düstere Bild, das Alper zeichnet, herangerückt ist. Denn seitdem der Film entstanden ist und beim Filmfestival in Venedig uraufgeführt wurde, ist so viel in der Heimat des Regisseurs passiert, dass man sich dies erst einmal verdeutlichen muss: Die Proteste im Gezi-Park, die Parlamentswahlen im November 2015, die der AKP die absolute Mehrheit brachten, der Putschversuch des Militärs im Sommer 2016 und die darauf folgende Verhaftungs- und Entlassungswelle sowie das Referendum vom April 2017 — all dies und noch viel mehr bildet den Hintergrund, der bei Abluka fast automatisch mitläuft. Auch und gerade weil all das erst danach geschah.
Der laute Knall und das Zittern der Erde, mit dem Abluka beginnt, ist in jenem Istanbul, von dem der Film erzählt, längst keine Ausnahme mehr, sondern vielmehr die Regel geworden. Immer wieder erschüttern heftige Explosionen die Stadt, ganze Stadtviertel sind militärisch gesichert und hermetisch abgeriegelt, das ganze Land scheint sich in einem permanenten (Bürger)Kriegszustand zu befinden. In diese Situation voller Angst und Unsicherheit hinein wird Kadir (Mehmet Özgür) nach einem 20-jährigen Gefängnisaufenthalt (warum er einsaß, erfährt man nie) in die Freiheit entlassen, doch zuvor erhält er noch einen Job: Er soll in dem Viertel, in dem er bei einem Ehepaar untergebracht werden soll, den Müll nach verdächtigen Hinterlassenschaften durchsuchen und Meldung machen, wenn ihm etwas Verdächtiges auffällt.

Auch Kadirs gerade von seiner Frau verlassener Bruder Ahmet (Berkay Ates), der im gleichen Viertel lebt, arbeitet für die Autoritäten. Im Auftrag der Stadt erschießt er streunende Hunde, die in Rudeln durch die Straßen ziehen und deren Gekläffe und Geheule weiter zu jener düsteren Soundlandschaft beitragen, zu denen die bleigrauen und düsteren Bilder passen, in die die Szenerien getaucht sind. Doch eines Tages macht Ahmet eine seltsame Wandlung durch: Er nimmt einen von ihm angeschossenen Hund bei sich auf, kapselt sich zunehmend von seiner Umwelt ab und versinkt immer tiefer in einen Verfolgungswahn, der langsam krankhafte Züge annimmt. Oder vielleicht sieht Ahmet ja doch klarer als die Menschen, die um ihn herum leben und die das nahende Unglück nicht erahnen?

Es ist eine düstere, bedrohliche und abgrundtief paranoide Welt, die Emin Alper in seinem Film entwirft, der als Drama beginnt und der dann immer mehr in Richtung eines lupenreinen Genrefilms zielt – allerdings freilich einen jener seltenen Sorte, in denen nicht Action im Vordergrund steht, sondern Atmosphäre. Und von der hat Abluka (der englische Titel des Films lautet übrigens Frenzy, was nicht nur an Alfred Hitchcock erinnert, sondern vor allem die wahnhafte Stimmung des Werkes kongenial widerspiegelt) mehr als genug zu bieten.

Mit der Präzision sich langsam drehender Mühlsteine zermalmt Alper durch seine tableauartigen Bildkompositionen und seine begleitenden Soundlandschaften jegliches Gefühl der Mitmenschlichkeit, Empathie und Solidarität und entblößt so das Wesen von Autoritarismus auf seinen nackten Kern der totalen Entmenschlichung. Abluka — Jeder misstraut jedem ist ein Film, der das Kunststück schafft, genau auf dem schmalen Grat zwischen Horrorfantasie und Anklängen an die Wirklichkeit zu balancieren: Die gefühlten Wahrheiten, die der Film in Bilder und Töne gießt, sind dröhnende Echos der Wirklichkeit. Oder vielleicht – auch dies erscheint möglich zu sein – nur Ausdruck einer generalisierten Paranoia, in der Sein und Schein längst untrennbar miteinander verbunden sind.

Ein Werk, das in seiner Größe, Bildmächtigkeit und Konsequenz an die ganz großen Meister der Filmgeschichte gemahnt – zuvorderst an Andrej Tarkovskij. Dass der Film zudem mit geradezu seherischer Konsequenz ein bewegendes Stimmungsbild der gegenwärtigen Türkei zeichnet, macht ihn zu einer absoluten Ausnahmeerscheinung, die sich tief in die Augen, die Ohren und das Gehirn des Zuschauers gräbt und diesen nicht mehr loslassen wird.

Frenzy (2015)

Man glaubt es kaum, dass Emin Alpers Film „Abluka — Jeder misstraut jedem“ bereits zwei Jahre alt ist. Zwar ist das, was der Film zeigt, auch angesichts des rasanten Wandels der Türkei hin zu einem autoritären Staat immer noch eine erschreckende Dystopie. Doch zugleich zeigt die Realität deutlich, wie nahe sie schon an das düstere Bild, das Alper zeichnet, herangerückt ist.
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