Das Tagebuch der Anne Frank (2016)

Eine Filmkritik von Andreas Günther

Das könnte ich sein

Auf der Amsterdamer Straße sieht sie zwei Juden. Anne Frank schreibt es in ihrem Tagebuch nicht, aber sie wird sie an den aufgenähten Sternen erkannt haben, als sie hinter der Gardine verborgen aus dem Versteck der Franks nach draußen blickte. Und sich mit Schuld quälte, weil sie in Sicherheit war. Solche Subtilitäten hat Hans Steinbichlers Film Das Tagebuch der Anne Frank nicht. Aber er ist großartig darin, die wohl ergreifendste Zeugin nationalsozialistischer Judenverfolgung den Gleichaltrigen der Gegenwart nahezubringen. Der Weg sollte vom Geschichtsunterricht gleich ins Kino führen, um festzustellen: Das könnte ich sein.
Hauptdarstellerin Lea van Acken hat daran großen Anteil. Sie versenkt sich in die Geschichte Anne Franks, nimmt aber viel von der Rede- und Verhaltensweise eines Teenagers des 21. Jahrhunderts in die Jahre 1942 bis 1944 mit. Sie gibt Anne Frank wortgewandt und keck, doch ist die Anne Frank des Tagebuchs so viel tiefer in einer feinsinnig aus Sprache und Gedanken gewobenen Weltsicht zuhause. Sie sucht auch in der Alltagskommunikation trotz aller Launen und gerade im Scherz immer nach der angemessenen Formulierung.

Dafür steuert Lea van Acken in ihrer Verkörperung die Direktheit bei, die der Gegenwart geläufig ist. „Fühlst du Dich jetzt besser?!“, faucht ihre Anne den Führer junger Rechtsradikale an, die sie und andere jüdische Mädchen vom Strand vertreiben. So fangen geschätzt erst seit den 1980er Jahren Problemgespräche an. Der Einwand historischer Unkorrektheit bleibt aber sozusagen im Hals stecken: Zu groß sind die Befürchtungen, solche Vorfälle könnten wiederkehren – oder sind es zum Teil schon. Und vielleicht stellvertretend für vernünftige junge Menschen von heute muss sie erfahren, dass es oft zwecklos ist, mit Radikalen reden zu wollen. Wenn diese Anne Frank in den Anfangsminuten des Films mit dem aufgenähten Davidstern durch Amsterdam geht, ist das irgendwie mehr als Zeitgeschichte.

Das jahrelange Ausharren im Versteck im Hinterhaus, dem Anne Frank in ihrem Tagebuch den größten Raum gegeben hat, setzt diese Linie fort. Obwohl die Texte des Tagebuchs durch van Ackens Stimme immer mitsprechen, sind die Handlungen der jungen Schauspielerin, sei es nun in der wechselvollen Beziehung zur Schwester Margot (Stella Kunkat), zu Mutter Edith (Martina Gedeck) oder zum geliebten Vater (Ulrich Noethen), von lakonischer Pragmatik geprägt. Sie ist noch in der Geste zu finden, mit der sie beim Kuss die Hand Peters (Leonard Carow), des Jungen im Versteck, von ihrem Geschlecht wegnimmt und auf ihre Hüfte legt. Selbst wenn in Rechnung gestellt sei, dass die historische Anne Frank über solche Momente in ihren Aufzeichnungen hinwegpoetisiert haben sollte, ist ihr doch Ähnliches bei weitem nicht zuzutrauen.

Aber diese Anne Frank hat eben die Aufgabe, ihre Altersgenossen vor der Wiederkehr des Grauens des Nationalsozialismus eindringlich zu warnen. Das komplexe Verhältnis zwischen Versteck und Außenwelt mögen andere Verfilmungen untersuchen.

Das Tagebuch der Anne Frank (2016)

Auf der Amsterdamer Straße sieht sie zwei Juden. Anne Frank schreibt es in ihrem Tagebuch nicht, aber sie wird sie an den aufgenähten Sternen erkannt haben, als sie hinter der Gardine verborgen aus dem Versteck der Franks nach draußen blickte. Und sich mit Schuld quälte, weil sie in Sicherheit war. Solche Subtilitäten hat Hans Steinbichlers Film „Das Tagebuch der Anne Frank“ nicht. Aber er ist großartig darin, die wohl ergreifendste Zeugin nationalsozialistischer Judenverfolgung den Gleichaltrigen der Gegenwart nahezubringen.
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