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Es ist eine starke Metapher: Zwei Enkel holen die demenzkranke Oma aus dem Altersheim zu sich ins Boot. In ein Kanu, um genau zu sein, auf eine zehntägige Reise. Das klingt romantisch, ist aber schwieriger als gedacht, wie Dokumentarfilmerin Astrid Menzel am eigenen Leib erfährt.

Blauer Himmel Weiße Wolken (2022)

Eine Filmkritik von Peter Gutting

Flussfahrt mit Oma

Menschen mit Demenz blühen manchmal auf, wenn sie sich an schöne Erlebnisse erinnern. Das möchte sich Enkelin und Filmemacherin Astrid Menzel zunutze machen, wenn sie mit ihrer immer vergesslicheren Oma Carmen und ihrem Bruder Hendric zu einer Kanutour aufbricht. Vor Jahrzehnten hatte die Familie das Boot gekauft, war mit den drei Kindern und später den Enkeln über norddeutsche Seen, Kanäle und Flüsschen gepaddelt. Dass alle in einem Boot sitzen, ist auch eine Metapher für den intensiven Zusammenhalt der Familie. Enkelin Astrid hält es einfach nicht mehr aus, dass ihre Großmutter seit zwei Jahren im Altersheim verkümmert, trotz häufiger Besuche ihrer Angehörigen. Die Kanufahrt soll Aufschluss bringen, was anders werden muss in der Betreuung der demenzkranken, mittlerweile 86-jährigen Oma. Es ist ein Abenteuer mit offenem Ausgang. Und mit ebenso berührenden wie nachdenklichen Episoden.

Die Erzählung der Vorgeschichte mag ein wenig langatmig erscheinen, doch sie ist äußerst wichtig. Nur durch sie versteht man, wie stark die Bindung der Enkelin auch zu ihrem Großvater war, den wir als etwa 90-Jährigen in seinen letzten Lebensjahren kennenlernen. Irgendwann sagt der greise Mann einen entscheidenden Satz: Wenn er nicht mehr da sei, müssten sich die Kinder und Enkel um die Oma kümmern. Man spürt, wie wichtig die Filmemacherin dieses Vermächtnis nimmt. Der Gedanke, die Idee mit der Kanutour könnte auch etwas mit kinotauglichen Bildern zu tun haben, verbietet sich, wenn man die Liebe und den Respekt erlebt, mit denen diese junge Frau (Jahrgang 1985) ihre Großeltern in Ehren hält.

Blauer Himmel Weiße Wolken ist weit davon entfernt, die perfekte Lösung für den Umgang mit Demenzkranken zu kennen. Seine oft ruhigen und geduldigen Bilder plädieren dafür, genau hinzuschauen und sich einem Experiment auszusetzen, dessen Ausgang keiner kennt. So beschaulich still das Boot dahingleitet und so idyllisch der blaue Himmel auch leuchtet: Die ganze liebevolle und bewundernswert ausdauernde Konzentration richtet sich auf das Austesten dessen, was noch möglich ist, wenn der Geist schwindet und den Abschied von liebgewonnenen Gewohnheiten einfordert. Es gibt viele berührende, teils auch lustige Momente in dieser schonungslos ehrlichen Dokumentation. 

In solchen Augenblicken spürt man, wie sehr die Oma das Zusammensein mit den beiden hingebungsvollen Enkeln genießt, auch wenn sie sie wiederholt für verrückt erklärt. Ein verschmitztes Lächeln huscht dann über ihr Gesicht, und immer wieder bestaunt sie die Wolken, die sie ganz neu für sich entdeckt in ihren wechselnden Gestalten. Aber schon bei der ersten Übernachtung im Hotel stellt sich heraus, warum die ständigen Ortwechsel keine gute Idee im Umgang mit Demenzkranken sind. Obwohl Oma Carmen die eigentliche Fahrt im Boot genießt und sich aufgehoben fühlt, machen sich abends Unruhe und Orientierungslosigkeit breit. 

Unterm Strich verbreitet Astrid Menzels Langfilmdebüt nicht die gleiche Zuversicht wie die ganz ähnlich angelegte Dokumentation Vergiss mein nicht (2012) von David Sieveking. Das hat damit zu tun, dass Menzel den entscheidenden Fortschritt im Befinden ihrer Oma nicht in den Film hineinnimmt, sondern nur im Interview davon berichtet: Die Pflegenden hätten nach der Rückkehr bemerkt, dass ihre Großmutter durch die Tour viel selbstbewusster geworden sei und wieder Freude am Leben gewonnen habe. Eine Rolle für die Unterschiede der beiden Filme spielt zudem, dass Kinder und Enkel von Oma Carmen aufgrund ihrer Berufstätigkeit in einem herzzerreißenden Dilemma stecken: Eine Pflege bei sich zu Hause ist unmöglich, aber das Seniorenheim tut der Oma einfach nicht gut. Bei David Sieveking hingegen war der Vater bereits in Rente. 

Die entscheidende Qualität von Menzels Debüt liegt in seiner schnörkellosen Offenheit: Es konfrontiert das Publikum mit einer Realität, die man allzu gern verdrängt und die doch sehr viele Familien betrifft. Der Film nimmt die Zuschauenden quasi bei der Hand und zeigt ihnen aus der schützenden Distanz des Kinosessels, wie man es schafft, würdevoll und einfühlsam mit jenen Zeit zu verbringen, die sich schleichend von uns verabschieden. Das ist nicht in jedem Moment tröstlich, aber doch anrührend in der sinnlichen Anschauung, wie viel man noch tun kann, wenn man einfach da ist und sich geduldig auf die besonderen Nöte und Angewohnheiten der Nähebedürftigen einlässt.

Blauer Himmel Weiße Wolken (2022)

Eine Enkelin nimmt ihre an Demenz erkrankte Großmutter mit auf eine Kanutour, um herauszubekommen, wie sie nach dem Tod des Großvaters für sie da sein kann.

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