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In seinem opulenten Historiendrama schlüsselt Marco Bellocchio den „Fall Edgardo Mortara“ auf. Als Siebenjähriger wurde der jüdische Junge von päpstlichen Soldaten den Eltern entrissen – weil er angeblich heimlich christlich getauft war.

Die Bologna-Entführung - Geraubt im Namen des Papstes (2023)

Eine Filmkritik von Peter Gutting

Teufelskreise der Macht

Ein unglaublicher Fall von Antisemitismus erschüttert 1858 ganz Europa: Bewaffnete entführen im Auftrag von Papst Pius IX. (Paolo Pierobon) den siebenjährigen jüdischen Jungen Edgardo Mortara (Enea Sala). Der Grund: Er soll als Baby ohne Wissen der Eltern christlich getauft worden sein. Beweise dafür legt die Kirche nicht vor. Zur Rechtfertigung nur so viel: Einmal katholisch, immer katholisch. Das Sakrament könne nicht zurückgenommen werden und der Junge dürfe nicht bei den Eltern bleiben, die man als Ungläubige diffamiert.

Dass das einen filmreifen Stoff ergibt, spürten schon mehrere Regisseure, unter ihnen Steven Spielberg. Aber alle Projekte zogen sich bisher in die Länge oder scheiterten. Bis auf eines: Marco Bellocchio, Spezialist für historische Dramen, realisierte auf der Basis der realen Geschichte einen opulenten Ausstattungsfilm mit dem Fokus auf große Gefühle.

Etwa ein Jahr nach der Entführung. Edgardo ist mit den anderen Kindern des katholischen Umerziehungsinternats beim Papst höchstpersönlich eingeladen. Alle sind fasziniert von den köstlichen Süßigkeiten, aber Edgardo hat nur Augen für den Papst. Und er ist der einzige, der eine knifflige Frage beantworten kann, die das Kirchenoberhaupt stellen wird: Was ist ein Dogma? „Eine Glaubenswahrheit, die man glaubt, ohne weiter zu fragen und ohne zu diskutieren, weil sie immer direkt von Gott kommt“. Darin drückt sich nicht nur die Identifikation mit dem Täter aus, die man so oft bei Gekidnappten findet. Der Lehrsatz umkreist indessen auch das Problem, das diesen Kostümfilm so aktuell macht, obwohl er jeden vordergründigen Hinweis auf die Gegenwart bewusst verweigert. Intoleranz und Rechthaberei sind die Wurzeln auch der derzeitigen politischen Konflikte. Und Regisseur Marco Bellocchio seziert an einem Extrembeispiel sehr präzise die Mechanismen und Teufelskreise, aus denen sie entspringen.

In bildstarken Parallelmontagen macht der Film deutlich, dass hier zwei Geschichten gleichzeitig erzählt werden, eine persönliche und eine politische. Die private lebt ganz von der Besetzung des jungen Hauptdarstellers Enea Sala. Er ist ein Kind, das ebenso unschuldig wie staunend auf die Welt blickt. Etwa in der starken Szene, als sich die Mutter nach dem ersten Besuch der Soldaten zu ihm mit feuchten Augen ins Bett legt, eindringlich mit ihm betet und ihn sanft in den Schlaf streichelt. Oder als er sich vom Vater Salomone (Fausto Russo Alesi) verabschieden muss, fassungslos flehend, aber ganz still, so als implodiere gerade lautlos ein Urvertrauen. Tatsächlich wird seine Miene versteinern und fast kein Gefühl mehr verraten, als er sich in sein Schicksal fügt, die Eltern beinahe vergisst und als junger Mann (nun gespielt von Leonardo Maltese) in einen Orden eintritt, wo er ausgerechnet die Juden und andere missionieren will.

Gern hätte man mehr erfahren über die genauen Mechanismen dieser Gehirnwäsche, über Hilflosigkeit, seelischen Zusammenbruch und manipulatives Umerziehen. Und warum das alles so schnell ging, ohne Proteste, Rebellion oder Fluchtversuche. Aber dafür nimmt sich der Film wenig Zeit, denn er will zugleich die ganze Komplexität des „Falles“ Edgardo Mortara aufrollen. Daher nehmen politische Verwicklungen einen ebenso großen Raum ein wie die persönlichen Seelenqualen, die sich hin und wieder plötzlich Bahn brechen, ohne dass man genau verstehen könnte, warum.

Nur eine Traumszene versinnbildlicht sehr gelungen die Zerrissenheit zwischen zwei Identitäten: Da geht der Junge in die Kirche und löst die Nägel vom Kreuz Jesu‘, an das ihn die Juden geschlagen haben. Der Heiland erwacht zum Leben und geht ganz friedlich an Edgardo vorbei, ohne Groll, wie zum Zeichen der Versöhnung zwischen beiden Religionen.

Zwar hat Marco Bellocchio (Il Traditore — Als Kronzeuge gegen die Cosa Nostra, 2019) in Interviews gesagt, er habe keinen kritischen Film über den Papst drehen wollen, sondern es gehe ihm um das individuelle Schicksal Edgardos. Trotzdem spielt der Film seine größten Qualitäten in der Analyse der Macht und ihres Missbrauchs aus. Genüsslich kostet er die Demütigungen aus, mit denen der Papst seine Gegner antanzen lässt. Akribisch legt er die Fallen, in die der „Heilige Vater“ tappt, weil er sich vergeblich gegen die Einsicht sträubt, dass seine Zeit als weltlicher Herrscher vorbei ist.

Und beinahe tiefenpsychologisch spürt er den Verdrängungsmechanismen nach, mit denen das Kirchenoberhaupt seine Ängste in Aggressionen gegen das Fremde umwandelt. Der Papst wird so zur heimlichen Hauptfigur – und die kritische Darstellung des Papsttums zur Entzauberung aller autoritären Herrschaft. Darin liegt der zeitgemäße Kern eines Historiendramas, das filmisch kaum Experimente wagt, sondern sich auf solides Handwerk verlässt.

 

Die Bologna-Entführung - Geraubt im Namen des Papstes (2023)

Bologna, 1858: Im Auftrag des Papstes dringen Soldaten in das Haus der Familie Mortara im jüdischen Viertel der Stadt ein. Sie erheben einen Anspruch darauf, Edgardo, den siebenjährigen Sohn der Mortaras, mitzunehmen. Als Säugling wurde der Junge heimlich von seiner Amme getauft – in diesen Fällen gilt das damals unumstößliche päpstliche Gesetz: Edgardo muss eine katholische Erziehung erhalten. Die verzweifelten Eltern tun alles, um ihren Sohn in die Familie zurückzuholen. Unterstützt von der Öffentlichkeit und der internationalen jüdischen Gemeinde, nimmt der Kampf der Mortaras schnell eine politische Dimension an. Doch die Kirche und der Papst stimmen der Rückgabe des Kindes nicht zu und nutzen den Fall, um ihre zunehmend schwankende Macht zu festigen …

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