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Offer Avnon lebte zehn Jahre in Deutschland, bevor er in seine Heimat Israel zurückkehrte. In seinem komplex erzählten Dokumentarfilm blickt er auf Deutschland, Polen, Israel, auf individuelle Erinnerungen und kollektive Erinnerungskulturen.

Der Rhein fließt ins Mittelmeer (2022)

Eine Filmkritik von Falk Straub

Vergangenheitsbefragung

Schon wieder ein Film über den Holocaust? Wurde in Claude Lanzmanns Monumentalwerk „Shoah“ (1985) nicht schon alles gesagt, was es zu dem Thema zu sagen gibt? Wer so denkt, sollte sich dringend Offer Avnons Dokumentarfilm ansehen. Darin führt der israelische Regisseur, der zehn Jahre in Deutschland lebte und inzwischen wieder in seiner Geburtsstadt Haifa wohnt, vor Augen, warum die kritische Auseinandersetzung mit der Vergangenheit nötiger denn je ist – nicht mit erhobenem Zeigefinger, sondern leise und nachdenklich seine Umwelt und sich selbst befragend.

Avnon ist sich seiner Vorgänger:innen bewusst. Er weiß, dass unzählige Zeugnisse über die Shoah abgelegt und sie wieder und wieder in Literatur, Film und Kunst verarbeitet wurde. „Trotzdem musste ich diesen Film machen. Obwohl ich im Haifa der 1970er geboren wurde, hat die Erinnerung an die und die Gegenwart der Shoah mein Leben stark beeinflusst“, erklärt er die Motivation hinter seinem Film in einem Regie-Statement. So wie Avnon, dem Sohn eines Holocaust-Überlebenden, geht es vielen aus seiner und aus nachfolgenden Generationen; nicht nur aufseiten der Opfer, auch auf der Seite der Täter. In seinem Film stellt er die zwei Seiten einander gegenüber und bringt sie so in einen (indirekten) Dialog.

Avnon bezieht sich selbst mit ein in seinen Film. Er ist zwar nie zu sehen, aber als Stimme präsent, die stets ruhig, ohne zu werten oder sich zu echauffieren, seine Gegenüber befragt. Vor seiner Kamera haben Zeitzeug:innen und Nachgeborene beider Seiten Platz genommen: Holocaust-Überlebende wie sein Vater, Vertriebene, Angehörige der deutschen und polnischen Zivilbevölkerung, eine junge Polin, die eine Zeit lang in Israel lebte und inzwischen im Museum der Geschichte der polnischen Juden in Warschau arbeitet, ein älterer deutscher Bundeswehrsoldat, der Nazi-Devotionalien sammelt und an Filmproduktionen über die Nazizeit mitwirkt, die in Görlitz gedreht werden.

Nicht alle wollen im Bild gezeigt werden, andere reden frank und frei. Was Avnon in den Gesprächen zutage fördert, reicht von ernstgemeinter Vergangenheitsbewältigung bis achtloser Geschichtsvergessenheit und bewusstem Relativismus. Der Regisseur macht dabei nicht vor seinem Heimatland halt. Seine Reise führt ihn von Deutschland über Polen zurück nach Israel, wo er das Zusammenleben von Israelis und Palästinensern auf den Prüfstand stellt. Und auch hier reicht die Spanne von Hoffnung bis Hoffnungslosigkeit, von einem positiven Glauben an die Menschheit bis zu rabenschwarzem Pessimismus.

Der Rhein fließt ins Mittelmeer feierte seine Weltpremiere beim Haifa Film Festival 2021 und eröffnete im selben Jahr die DOK Leipzig. Wenn er mit seiner assoziativen Montage, auf die man sich erst einmal einlassen muss, knapp zwei Jahre später nun endlich auch in die deutschen Kinos kommt, zeigt er vor allem, wie dringend die Enkel:innen- und Urenkel:innengeneration in die Archive hinabsteigen und die Kriegsgeschichten ihrer Groß- und Urgroßeltern überprüfen sollte. Wer kann schon von sich behaupten, wirklich zu wissen, welche Rolle die eigenen Familienmitglieder im Nationalsozialismus und im Zweiten Weltkrieg gespielt haben? Die wenigsten, so möchte man annehmen. Dabei ist diese individuelle Vergangenheitsbewältigung lange überfällig. Das Tückische an der (deutschen) Erinnerungskultur ist ja, dass sie eine kollektive ist; was letztlich auch die Schuld mindert, wenn sie alle und dadurch weniger einen selbst betrifft.

Offer Avnon macht einen Anfang; setzt dem kollektiven Gedenken einige individuelle Erinnerungen entgegen, um „mehr als ein weiterer passiver Bote dieses kollektiven Bewusstseins zu werden.“ Das ist ihm gelungen.

Der Rhein fließt ins Mittelmeer (2022)

Nach zehn Jahren in Deutschland, wo er „die schöne Sprache des ehemaligen Erzfeindes“ erwarb, kehrt der Filmemacher zurück nach Haifa und lässt seine Zeit zwischen Rhein und Neiße Revue passieren, schaut aber auch mit verändertem Blick auf seine Heimat. Das Resultat ist eine komplexe Montage von Bildern dieser Jahre: Gespräche, Landschaften und Gegenstände, gesucht und gefunden in Deutschland, Polen und Israel.

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