Log Line

In „Reality“ bringt Tina Satter den realen Fall der Verhaftung einer Whistleblowerin mit cleveren Methoden zwischen Rekonstruktion und künstlerischer Interpretation auf die Leinwand.

Reality (2023)

Eine Filmkritik von Andreas Köhnemann

Echt jetzt?

Mit „Reality“ adaptiert die US-Regisseurin Tina Satter ihr 2021 uraufgeführtes Off-Broadway-Stück „Is This A Room“, das sich mit einem realen Fall aus dem Juni 2017 befasst. Die Dialoge, sowohl der Bühnenvorlage als auch der Leinwandbearbeitung, wurden unverändert aus einer Tonaufzeichnung des FBI übernommen.

Dabei handelt es sich um ein Verhör der 1991 geborenen Sprachwissenschaftlerin Reality Winner vor und in deren Haus in Georgia. Als Whistleblowerin, die einer News-Website nachrichtendienstliche Informationen zur Einflussnahme Russlands auf den US-Wahlkampf 2016 zugespielt hat, wurde Winner angeklagt und zu mehr als fünf Jahren Haft verurteilt.

Bereits der Titel des Films bringt die Vielschichtigkeit des Projekts auf den Punkt. Zum einen ist Reality schlicht der Vorname der (echten) Protagonistin. Dass eine Person, die von der Regierung ihres Landes für mehrere Jahre ins Gefängnis gebracht wird, weil sie aus eigener Überzeugung zur Aufdeckung von Betrug beitragen wollte, ausgerechnet den Namen Reality Winner („Siegerin der Wirklichkeit“) trägt, mutet wie eine bittere Ironie des Schicksals an.

Zum anderen arbeitet Reality mit dokumentarischem Material, also dem Stoff der Realität, den das Leben schrieb. Es handelt sich jedoch auch um einen Spielfilm, der ganz bewusst auf Verfremdungseffekte setzt. Nicht zuletzt machen uns der Titel sowie das geschilderte Geschehen darauf aufmerksam, wie unfassbar absurd unsere Realität (geworden?) ist – und wie sehr wir das womöglich schon als gegeben hingenommen haben.

Bei der Übertragung eines Stücks auf die Leinwand besteht immer die Gefahr, dass das Ergebnis letztlich nicht mehr als abgefilmtes Theater ist. Und so sehr auf Reality auch die Bezeichnung Kammerspiel zutrifft, so faszinierend sind doch gerade die filmspezifischen Mittel, die Satter zum Einsatz bringt. Die Kamera von Paul Yee fängt geschickt zahlreiche Details ein – Magnete am Kühlschrank, Geschirr in der Spüle – und erfasst durch Nah- und Großaufnahmen jede kleinste Irritation und Verunsicherung in den Gesichtern der Beteiligten. In anderen Einstellungen wird wiederum die Taktik des FBI sichtbar: Reality ist stets von Männern, die sie beobachten oder ausfragen, umgeben, während ihr Haus durchsucht wird. Hinter der jovialen Attitüde der Ermittler lassen sich klare Einschüchterungsmechanismen erkennen.

Eindrücklich ist, wie der Film mit seinen realen Quellen, den Audiodateien, Transkripten und Fotografien, umgeht und wie er diese in die Inszenierung einbaut. Jedes Lachen, Husten und Verhaspeln, jede vermeintlich harmlose Abzweigung in Smalltalk-Themen, aber auch jede peinliche Stille ist dokumentiert, wie kurze Einblendungen der zugrundeliegenden Quellen immer mal wieder demonstrieren. Wenn Stellen in den Protokollen zensiert wurden, beginnen die Bilder zu flackern und weisen auf eine Störung hin. Zuweilen verschwinden die Figuren, deren Worte entfernt wurden, für wenige Sekunden: Augenblicke der Surrealität, mitten in der Realität. Hinzu kommen ein paar Rückblenden in gezielter Unschärfe.

Was Reality zusätzlich zu einem filmischen Ereignis macht, sind die präzisen Schauspielleistungen. Sydney Sweeney (Euphoria) hat die Titelrolle offensichtlich mit jeder Faser ihres Körpers verinnerlicht. Sie liefert eine komplexe, authentische Darbietung, souverän flankiert von Josh Hamilton und Marchánt Davis in den Parts der gegensätzlichen Agenten, die das Verhör leiten und sich dabei mal kumpelhaft geben und mal als Bedrohung spürbar werden.

Reality (2023)

Tina Satter präsentiert eine Momentaufnahme aus der jüngsten Geschichte der USA und inszeniert mit unveränderten Originaldialogen aus einer FBI-Tonaufzeichnung die Hausdurchsuchung bei Whistleblowerin Reality Winner 2017 als spannungsreiches Kammerspiel.

  • Trailer
  • Bilder

Meinungen