Log Line

Das Spielfilmdebüt des irischen Regisseurs Colm Bairéad erzählt aus der Perspektive eines wortkargen Mädchens von seinem Sommer bei Pflegeeltern auf dem Lande. Ein poetischer Film mit einer großartigen Hauptdarstellerin.

The Quiet Girl (2022)

Eine Filmkritik von Bianka Piringer

Vater, Mutter, Kind

Cáit (Catherine Clinch) ist es gewohnt, zu schweigen. Das neunjährige Mädchen erfasst die umgebende Atmosphäre mit untrüglichem Gespür. In ihrem Elternhaus vernimmt sie die unausgesprochene Botschaft, dass sie den Mund halten und nicht auffallen soll. Als Cáit im Sommer zu Verwandten geschickt wird, ohne zu wissen, wieso und für wie lange, befindet sie sich bereits in innerster, seelischer Not. Im aufgeräumten, sauberen Haus der freundlichen Tante Eibhlín (Carrie Crowley) herrscht Stille. Nur sie und ihr Mann Seán (Andrew Bennett) würden auf der Farm leben, antwortet die Tante auf Cáits Frage, ob es hier Kinder gebe. Bereitwillig zieht Cáit die Jungenkleider an, die die Tante ihr gibt, weil sie selbst keine Kleidung zum Wechseln dabei hat. Und über die Tapete mit den Lokomotiven in ihrem Zimmer verliert sie vorsichtshalber auch kein Wort.

Das Spielfilmdebüt des irischen Regisseurs Colm Bairéad ist ein Kinojuwel. Die bezaubernde Geschichte, die im Jahr 1981 spielt, basiert auf der Novelle Foster von Claire Keegan. Sie nähert sich der Erfahrungswelt eines Kindes an, das zusieht und zuhört, um seinen Platz zu finden. Cáit will begreifen, indem sie mit dem Herzen sieht – und damit ist sie auch eine ideale Figur für das Kino, dessen künstlerische Sprache im Kern keine verbale ist. Das Mädchen, dessen trinkender Vater (Michael Patric) und die mit der Kinderschar überforderte Mutter (Kate Nic Chonaonaigh) es allenfalls negativ wahrnahmen, sitzt nun vor dem Spiegel und lässt sich von Eibhlín die langen Haare bürsten. Eibhlín zählt andächtig die Streichbewegungen und in Cáits Gesichtsausdruck lässt sich erkennen, wie sehr sie die Erfahrung, wertgeschätzt zu werden, aufsaugt.

Äußerlich passiert gar nicht so viel in diesem Drama, das 2023 eine Oscarnominierung bekam und 2022 unter anderem auch den Europäischen Filmpreis für die beste Kamera. Die Kamerafrau Kate McCullough fängt wiederholt impressionistische Motive ein, Lichtreflexe auf dem Wasser, flüchtige Formen, in denen Cáit die Schönheit der Welt erahnen kann. So wie sie vieles nicht versteht oder nicht gesagt bekommt, fühlen sich auch die Zuschauer nicht restlos informiert über die Umstände und die Hintergründe des Geschehens. Der Film ist ganz auf Cáits Sichtweise und Erfahrungshorizont zugeschnitten, was sich auch im relativ schmalen Bildformat Academy Ratio ausdrückt.

Es ist nicht alles perfekt bei Cáits Pflegeeltern auf Zeit. Eine Tragödie, die zunächst verschwiegen wird, belastet die Atmosphäre auf kaum greifbare Weise. Eibhlín kümmert sich liebevoll um das Mädchen, legt aber auch nicht jedes ihrer Worte auf die Goldwaage. Seán würdigt Cáit anfangs kaum eines Blickes und so steht schon zu befürchten, dass er das arme Kind auf ähnliche Weise ignorieren wird wie dessen Vater. Diese irischen Landbewohner sind ein besonderer Menschenschlag. Das Ehepaar ist zudem nicht nur mit freundlichen Nachbarn gesegnet, wie Cáit bald erfährt.

Bairéad interessiert sich für die Figuren und wie sie ihre Beziehungen zueinander aufbauen. Das Resultat sind unvergessliche Szenen, in denen kleine Gesten wie beiläufig die emotionalen Weichen stellen. So sitzt Cáit einmal in der Küche, mit dem Rücken zum Hausherrn, der beim Hinausgehen wortlos einen Keks auf den Tisch legt. Nach kurzer Überlegung steckt ihn Cáit mit raschem Griff in ihre Hosentasche. Wie das Mädchen und Seán allmählich aufeinander zugehen, gehört zu den schönsten Aspekten der Geschichte. Um tiefer und authentischer in die Atmosphäre einzutauchen, drehte Bairéad seinen Film in irischer Sprache – auch mit dieser kulturellen Besonderheit setzt er sich vom Mainstream ab.

Die unvergleichliche Catherine Clinch trägt in ihrer ersten Rolle den ganzen Film auf ihren Schultern. Ihre zarten Gesichtszüge besitzen eine phänomenale Ausdruckskraft. Cáit kann fragend, ängstlich, beglückt, genießerisch, aufmerksam schauen. Und wenn ihre Miene reglos wirkt, zeichnet sich darin dennoch auch Begreifen ab, zum Beispiel eine stille Komplizenschaft mit diesen Leuten, die auf manchmal merkwürdige Weise versuchen, es richtigzumachen. Cáit besitzt neben ihrer Schüchternheit – die möglicherweise auch ihre Art guten Benehmens ist – eine innere Stärke und Spannkraft. Wie sie dem wortkargen Seán plötzlich unbefangen mit Fragen zusetzt, warum das Kälbchen seine Muttermilch nicht trinken darf, beweist einen unabhängigen Geist. Cáit hat lange darauf gewartet, mit jemandem in Verbindung treten zu können. Am Ende dieses Sommers wird Cáit gewachsen sein. Mit seiner Poesie und tröstlichen Wärme hallt The Quiet Girl lange nach.

The Quiet Girl (2022)

Vier Geschwister, eine Mutter, zerrissen zwischen Fürsorge und Hilflosigkeit, ein fluchender Vater und jeden Morgen eine nasse Matratze – so sieht das Leben der schweigsamen Cáit aus. Die Eltern halten es für das Beste, wenn sie den Sommer auf der Farm naher Verwandter verbringt. Cáit kennt die beiden nicht. Das Haus ist hell und sauber, zum Anwesen führt eine Allee mit üppig-grünen Bäumen. Hier herrscht eine respektvolle Stille. Liebevoll umsorgt von Eibhlín fühlt sich Cáit geborgen. Nach anfänglicher Zurückhaltung vertieft sich auch die Beziehung zu Seán, der mit ihr die Kälber füttert. Die Matratze bleibt trocken. Und doch scheint der Farm inmitten der kargen, schönen irischen Landschaft ein Geheimnis anzuhaften, auf dessen Spuren sich Cáit mit neu gewonnenem Mut und Vertrauen begibt. (Quelle: Berlinale)

  • Trailer
  • Bilder

Meinungen