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Zuletzt entführte Jens Meurer sein Publikum ins Hirn eines Visionärs. Dieses Mal geht es ins Herz eines englischen Städtchens, das sich europäisch fühlt, aber kaum britischer sein könnte. Ein Dokumentarfilm über Blut, Schweiß und Freudentränen.

Seaside Special - Ein Liebesbrief an Großbritannien (2021)

Eine Filmkritik von Falk Straub

Blut, Schweiß und Freudentränen

Nach 20 Jahren Pause als Regisseur hat sich Jens Meurer wieder mit dem Filmfieber infiziert. Auf seine Dokus „Zauberberg“ (2019) und „An Impossible Project“ (2020), schon diese ein irrer Trip ins Hirn eines größenwahnsinnigen Visionärs, lässt Meurer einen noch großartigeren Trip folgen. Diesmal geht die Reise in die Grafschaft Norfolk ins Herz des Brexits und treibt die Temperatur des Kinopublikums rasant in die Höhe. „Seaside Special“ versammelt alles, was wir an unseren englischen Nachbarn bewundern und bemängeln und ist nichts anderes als im Untertitel angekündigt: ein Liebesbrief an Großbritannien.

„Stellen Sie sich vor, Ken Loach, Martin Parr und Monty Python würden sich zusammentun, um eine Dokumentation zu drehen – hier würden sie es tun“, sagt Jens Meurer über seinen Drehort, das beschauliche Städtchen Cromer an der englischen Nordseeküste. Das erste Mal war Meurer mit seiner englischen Frau und den Schwiegereltern vor Ort, die seit Jahren dort urlauben. Dazu gehört auch ein Besuch der „End-Of-The-Pier-Show“, die während der Sommersaison zweimal am Tag über die Bühne geht. Nach der Vorstellung war es um Meurer geschehen. Er hatte sich in Cromer, dessen Bewohner:innen, die Bühnenshow und die Menschen, die sie jedes Jahr auf die Beine stellen, verliebt. Meurers Publikum geht es nicht anders.

Bei der Show ist Nomen Omen. Sie heißt so, weil sie im Theater ganz am Ende des historischen Piers aufgeführt wird. Von hier aus ist der Weg nach Amsterdam kürzer als der nach London. Und trotzdem haben 66 Prozent in der Grafschaft für den Austritt aus der Europäischen Union gestimmt. Wer genau hinschaut, kann unter den Bodenbrettern im Zuschauerraum die tosende Nordsee erspähen. Schon diese Location ist ein Highlight an sich. Die Aufführung selbst bietet einen Kessel Buntes; Varieté im besten Sinne.
 
Musical-Nummern wechseln sich mit Tanzeinlagen, Sketchen und Zaubertricks ab. Der Moderator führt mit anzüglichen Witzen durch den Abend und ist selbst Teil des Programms; tanzt, singt, besorgt den Slapstick. „Niemand wird hier berühmt; niemand wird hier jemals viral gehen“, heißt es dazu im Presseheft des Films. Aber das ist nicht schlimm, denn alle Beteiligten – von der Tanzlehrerin über die Kostümbildnerin bis hin zur Regisseurin und ihren Akteur:innen – sind mit Herzblut dabei – und das sieht und spürt man.

Meurer hat die Sommersaison 2019 begleitet, von den Proben bis zur letzten Aufführung. Sein Film ist ungewollt auch ein Prä-Corona-Film. Was mit der „End-Of-The-Pier-Show“ danach geschah, ob es sie heute überhaupt noch bzw. wieder gibt, wissen wir nach Verlassen des Kinosaals nicht. Meurers Film ist aber noch etwas ganz anderes: ein Brexit-Film, denn nicht zuletzt darum ging es dem 1963 in Nürnberg geborenen Regisseur, der in seiner Studienzeit in Oxford nicht nur seine Frau (im Übrigen die Produzentin dieses Films), sondern auch Boris Johnson und Michael Gove, den Architekten der Leave-Kampagne, kennenlernte; darum, die Briten und den Brexit zu begreifen.

Dafür hat Meurer nicht nur die an der Show Beteiligten, sondern auch deren Familien und zahlreiche Bewohner Cromers befragt; vom Krabbenfischer in achter Generation bis zum Restaurantbesitzer mit Migrationshintergrund. Dass sie allesamt frei von der Leber weg reden, dürfte auch damit zu tun haben, dass ihnen hier kein kritisch auf den Brexit blickender Brite, sondern ein Deutscher gegenübersteht, der ausreichend britischen Background mitbringt, um sich in die britische Seele einzufühlen, als Außenstehender aber gleichzeitig ernsthaft und vorurteilsfrei an allen Meinungen interessiert ist.

Wie schon in Meurers vorangegangenem Dokumentarfilm geht es am Rande auch um das Analoge versus das Digitale. Seaside Special beweist, dass die Menschen trotz aller digitalen Zerstreuung weiterhin Interesse an Handgemachtem haben. Dabei spielt es keine Rolle, wie professionell eine Bühnenshow letztlich ausfällt. Wenn genug Blut, Schweiß und Tränen in die Inszenierung geflossen sind, wird das am Ende goutiert und bewegt einen mehr als jedes TikTok-Video.

Da verwundert es kaum, dass Meurer abermals nicht digital, sondern analog gedreht hat. Dieses Mal auf 16-mm-Material, was seinem Film eine körnige Qualität verleiht. Unterstützt wird dieses heimelige Homemovie-Feeling von den wundervollen Arrangements der Fabulous Steve Willaert Brass Band, die zeitgenössische Songs auf alt getrimmt interpretieren.

Nach An Impossible Project ist Jens Meurer damit der nächste Crowd Pleaser geglückt. Sein Film ist nicht nur offen und ehrlich, sondern auch herzerwärmend und brüllend komisch. Bei den 51. Hofer Filmtagen gab es eine „Lobende Erwähnung“ und beim Cambridge Film Festival den Publikumspreis. Bleibt zu hoffen, dass auch das deutsche Kinopublikum zahlreich erscheint.

Auch wenn er selbst keine Filme mehr gedreht hat, war Meurer in den vergangenen zwei Jahrzehnten selbstredend nicht untätig. Als Produzent hat er internationale Blockbuster wie Rush (2013) oder Hectors Reise (2014) sowie ambitionierte europäische Filme wie Russian Ark (2002) oder Big Game (2014) auf den Weg gebracht. So unterhaltsam und zum Mitfiebern wie seine jüngsten Dokumentarfilme waren diese allerdings nur selten. Es bleibt also zu hoffen, dass das Filmfieber Meurer noch eine Weile schüttelt.

Seaside Special - Ein Liebesbrief an Großbritannien (2021)

„Seaside Special“ ist eine liebevolle „Abrechnung“ mit Großbritannien: Ein Jahr lang beobachtet der Filmemacher die letzte traditionelle „End-of-the-Pier-Show“ auf einem Nordsee-Pier im abgelegenen englischen Seebad Cromer.

Der Film zeigt einen aus der Zeit gefallenes Städtchen voller urbritischer Typen, der tatsächlich jedoch einen hochaktuellen Ausblick bietet: Es geht hier um Haltung, Handarbeit und Authentizität. Um Gemeinschaft und Werte, um den Humor unserer britischen Nachbarn, ihre Originalität und ihre Spleens – die wir als Europäer schmerzlich missen werden. (Quelle: 55. Hofer Filmtage 2021)

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