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Mit „An einem schönen Morgen“ setzt Mia Hansen-Løve ihre leise, einfühlsame Erzählweise fort – und konfrontiert Léa Seydoux mit den Herausforderungen im Familien- und Liebesleben.

An einem schönen Morgen (2022)

Eine Filmkritik von Andreas Köhnemann

Wo fängt es an, wo hört es auf?

Die 1981 geborene französische Drehbuchautorin und Regisseurin Mia Hansen-Løve hat mit „An einem schönen Morgen“ bereits ihren achten Langfilm gedreht. Mal hat sie sich in ihrem Schaffen der Pariser Underground-Musikszene der frühen 1990er Jahre gewidmet („Eden“), mal hat sie eine Philosophielehrerin bei der Neusortierung ihres Lebens beobachtet („Alles was kommt“). Was ihre Werke verbindet, sind autobiografische Spuren – oft in der Zeichnung der zwischenmenschlichen Beziehungen und/oder des bildungsbürgerlichen Milieus, in dem viele ihrer Figuren zu verorten sind.

Nachdem sie in Bergman Island (2021) ihre Beziehung zu dem 26 Jahre älteren Regisseur Olivier Assayas ins Fiktive übertragen hat, steht diesmal das Verhältnis zum Vater im Mittelpunkt. Als Hansen-Løves Alter Ego fungiert die Übersetzerin und Dolmetscherin Sandra (Léa Seydoux), die als alleinerziehende, früh verwitwete Mutter mit ihrer kleinen Tochter Linn (Camille Leban Martins) in Paris lebt.

Wie Hansen-Løve mit ihrem Kameramann Denis Lenoir ganz unaufgeregt und doch pointiert den Arbeitsalltag der jungen Frau einfängt, zeigt bereits die Souveränität, über die sie als audiovisuelle Erzählerin verfügt: Die Situation, aber auch der Charakter der Protagonistin vermittelt sich wie von selbst, wenn wir Sandra stets interessiert und konzentriert bei öffentlichen Reden, Führungen oder Panels zuschauen. Viel später im Handlungsverlauf droht Sandra diese Fokussierung zu entgleiten; sie wird fahrig. Durch besagten Einstieg begreifen wir zu diesem Zeitpunkt rasch, wie schwer dieser Verlust von Kontrolle für Sandra wiegt.

Zum einen schildert An einem schönen Morgen eine komplizierte Liebesgeschichte. Im Park trifft Sandra ihren einstigen guten Freund Clément (Melvil Poupaud), einen weit gereisten Kosmochemiker, wieder. Dieser hat ebenfalls ein Kind – und ist verheiratet. Es dauert nicht lange, bis Sandra und Clément eine Affäre eingehen. Auch hier erweist sich Hansen-Løve als empathische Beobachterin: Sie fällt kein moralisches Urteil, weder über Sandra als Geliebte, noch über den fremdgehenden Clément. Die sexuelle Lust, die Heimlichkeit, der Schmerz – das teilt sich ohne Sentimentalität mit. Zunächst versucht Sandra, die Affäre vor ihrer Tochter zu verbergen – aber plötzlich ist da eben ein (neuer) Mann in Mamas Bett, eigentlich keine große Sache. Bis sich bei Clément dann eben doch das Gewissen meldet und er die Beziehung infrage stellt.

Zum anderen blickt der Film auf Sandras Familie. Ihr Vater Georg (Pascal Greggory), ein ehemaliger Philosophieprofessor mit eindrücklicher Büchersammlung, kann nicht länger alleine wohnen. Durch eine neurodegenerative Krankheit hat er fast seine komplette Sehkraft verloren. Von Sandras Mutter Françoise (Nicole Garcia) ist er seit 20 Jahren getrennt; seine neue Partnerin kann sich aus gesundheitlichen Gründen nicht um ihn kümmern. So kommt er in eine Klinik und später in ein Pflegeheim. An einem schönen Morgen wird dabei nie zu einem Thesenfilm; es handelt sich nicht um einen Film zu allgemeinen Fragen wie „Wie sollen wir mit unseren alt werdenden Eltern umgehen?“ oder „Wie steht es um das Gesundheitssystem?“ Hansen-Løve bleibt immer bei Sandra, bei ihren Gefühlen, die auch mal ganz plötzlich aus ihr hervorbrechen.

Léa Seydoux, die in ihren beiden Einsätzen im James-Bond-Universum reichlich hölzern durch die Kulissen schießen und schmachten musste, verkörpert diese Rolle frei von jeder Künstlichkeit. Sandra wird nicht als Übermutter oder als perfekte Tochter in Szene gesetzt. Zuweilen ist sie einfach nur ratlos. Als sie sich nach einem Besuch im Heim von ihrem Vater verabschiedet und dieser, noch bevor sie in den Fahrstuhl steigen kann, wieder verwirrt in allen Räumen nach seiner Partnerin sucht, fehlt Sandra schlichtweg die Kraft, noch einmal zurückzugehen, um Georg zu beruhigen. Sie verschwindet im Aufzug; sie kann nicht mehr.

In seinen gesammelten Büchern drücke sich seine Persönlichkeit aus, sagt Sandra an einer Stelle über ihren Vater. Auch sie redet mit Vorliebe etwa über Annemarie Schwarzenbach, über Kunst und Musik. Doch plötzlich muss sie über die Finanzierung eines Heimplatzes, über die Auflösung einer Wohnung und gar über Sterbehilfe sprechen – und dadurch unweigerlich über die Vergänglichkeit nachdenken.

Sandras Mutter meint, sie habe die Zeit mit Georg einfach vergessen – ein völliger Blackout. Georg und Sandra sinnieren indes über das Bedürfnis nach einem Anfang, einer Mitte und einem Ende. Das Leben, der Alltag und insbesondere unsere Beziehungen scheinen so allerdings leider nicht zu funktionieren – da ist keine verlässlich-beruhigende Dreiaktstruktur, die uns Sicherheit zu geben vermag. An einem schönen Morgen erfasst dieses Gefühl der Ungewissheit sehr treffend. Es gibt schöne Morgen, die vielleicht nach ein paar Stunden in traurige Abende umschwenken. Wirklich niemand kann es uns übel nehmen, wenn wir nicht immer wissen, wie wir damit umgehen sollen.

An einem schönen Morgen (2022)

Der Film erzählt von einer alleinstehenden Mutter mit einer zehnjährigen Tochter, die mit der Sterblichkeit ihres schwer kranken Vaters und der Aussicht auf eine mögliche neue Liebe nach fünf Jahren als Single umgehen muss.

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