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Der zweite Film von Léa Mysius ist mindestens so großartig wie ihr Debüt „Ava“ – und geht als fantastisches Melodram doch ganz andere Wege.

The Five Devils (2022)

Eine Filmkritik von Michael S. Bendix

Flammen der Vergangenheit

Es ist eine der schönsten Filmerfahrungen, die man machen kann: wenn der langersehnte Nachfolgefilm eines großartigen Debüts die Erwartungen, die man in qualitativer Hinsicht an ihn gestellt hat, vollends erfüllt, inhaltlich und formal aber dennoch zu überraschen weiß. „The Five Devils“ von Léa Mysius ist so ein Film. Mit „Ava“ (2017) hat die französische Regisseurin einen der aufregendsten Erstlingsfilme der vergangenen Jahre gedreht – das Coming-of-Age und sexuelle Erwachen einer 13-Jährigen, die im Begriff ist, zu erblinden, als traumwandlerische Sommerfantasie zwischen Formalismus und Verspieltheit. „The Five Devils“ ragt noch deutlicher als seine Vorgängerin ins Genrekino, ohne jemals vollends in ihm aufzugehen, ist narrativ weitaus verzweigter und doch konkreter.

„Les Cinq Diables“, die fünf Teufel, sind fünf nebeneinanderstehende Gebirgsgipfel in den französischen Alpen, und sie geben nicht nur dem Film seinen Namen, sondern auch dem kleinen Bergdorf, in dem die Protagonist:innen leben. Fünf Menschen sind es auch, um die herum sich das Drama entspinnt, das Mysius so langsam auffächert, dass es sich lange nicht als solches zu erkennen gibt. Die Grundkonstellation zu erklären, ist eine kleine Herausforderung: Da sind zum einen Schwimmlehrerin Joanne (Adèle Exarchopoulos), ihr Ehemann Jimmy (Moustapha Mbengue) – ein Feuerwehrmann – sowie ihre kleine Tochter Vicky (Sally Dramé). Dass zwischen Joanne und Jimmy etwas nicht stimmt, verrät früh ihr zumeist distanzierter Umgang miteinander. Nein, eigentlich sehen beide schon auf dem Hochzeitsfoto, das in einer der ersten Szenen prominent ins Bild gerückt wird, nicht besonders glücklich aus. Da hilft es nicht, dass plötzlich Jimmys frisch aus dem Gefängnis entlassene Schwester Julia (Swala Emati) vor der Tür steht, deren offensichtliches Alkoholproblem nicht ihre einzige Untiefe zu sein scheint. Wie tief die Abneigung Joannes gegen ihre Anwesenheit sitzt, erklärt sich daraus trotzdem nicht. Und schließlich ist da noch Joannes Kollegin Nadine (Daphne Patakia), deren Gesicht zur Hälfte von Brandnarben übersät ist – auch sie muss in irgendeiner Form in das Geflecht verwickelt sein. Nur wie? Und worum geht es darin überhaupt? Und ist das Feuer, das wir in der Eröffnungsszene des Films sehen, realen Ursprungs oder befinden wir uns in der Hölle?

Damit wir all das herausfinden können, muss Vicky erst ein außergewöhnliches Talent offenbaren: Ihr Geruchssinn ist derart ausgeprägt, dass sie etwa den Standort ihrer Mutter auf 30 Meter Distanz im Wald erriechen kann. Und mehr noch: Sie ist in der Lage, jeden beliebigen Geruch zu reproduzieren, in sorgfältig beschrifteten Einweggläsern zu speichern und sich von ihnen in vergangene Zeiten tragen zu lassen. Diese Fähigkeit nutzt Vicky bald, um der Vergangenheit von Joanne, Jimmy und Julia auf den Grund zu gehen – und trotz entsprechender Marker bewegt sich The Five Devils mit dieser fantastischen Wendung weniger in Richtung Genrekino, sondern transformiert sich nach und nach zum Melodram, das als solches aus dem Vollen schöpft. Ohne zu viel zu verraten, geht es auf der vorderen Ebene um eine verunmöglichte lesbische Liebe, um eine offenbar halbherzige Ersatzbeziehung und ein daraus resultierendes Eifersuchtsdrama, und wie ernst es Mysius mit dem Gefühlskino ist, zeigt sich schon darin, dass sie ausgerechnet Bonnie Tylers theatralischen Sehnsuchtshit Total Eclipse of the Heart als musikalisches Leitmotiv der verdrängten (und später wieder aufkeimenden) Beziehung auserwählt – inklusive einer wundervollen Karaokesequenz.

Dahinter wird es vertrackter: Wie genau Vickys Zeitreisefähigkeit funktioniert, bleibt unklar, vielmehr wirkt es so, als wäre sie schlicht Teil eines selbst gebauten Regelwerkes, durch das der Film es sich erlaubt, zeitungebunden zum Herz und Kulminationspunkt seiner Geschichte vorzudringen. Zugleich haben Vickys Exkursionen – gemäß den Paradoxien einer jeden Zeitreisegeschichte – ganz reale Auswirkungen auf den Fortlauf der Erzählung und fachen die Tragödie an. So liebenswert die Siebenjährige erscheint, die in der Schule rassistischen Übergriffigkeiten ihrer Klassenkamerad:innen ausgesetzt ist, so zunehmend zweifelhaft erscheinen in Teilen auch ihre Motivationen – ist sie am Ende ein frühes Exempel jener homophoben Umwelt, die vielleicht gar ihre Geburt ermöglicht hat?

Mysius‘ Perspektive bleibt durchweg angemessen ambivalent, passend dazu will sie sich auch stilistisch nicht festlegen lassen: Das neblige Grau der isolierten Berglandschaft wird konterkariert durch expressive Popkino-Anleihen, Genre-Transgression trifft auf magischen Realismus und pathosgeladenen Überschwang. Auf körnig-haptischem 35mm gedreht, ist The Five Devils inmitten digitaler Flachheit ohnehin eine wunderschöne visuelle Ausnahmeerscheinung. Auch wenn das allerletzte Bild vielleicht eines zu viel ist: Mit ihrem sich selbstbewusst zwischen alle Stühle setzenden und doch vollkommen schlüssigen Zweitwerk etabliert sich Léa Mysius endgültig als eine der spannendsten neuen Stimmen im französischen Kino, von der man künftig alles erwarten darf.

The Five Devils (2022)

Das kleine Mädchen Vicky verfügt über ein besonders Talent – ihr olfaktorischer Sinn ist so stark ausgeprägt, dass sie alle Gerüche ihrer Wahl riechen und reproduzieren kann. Diese sammelt sie in etikettierten Gläsern. Das einsame Kind hat eine sehr starke Bindung zu ihrer Mutter Joanne, deren Duft sie ebenfalls heimlich extrahiert. Als eines Tages Tante Julia auf der Bildfläche erscheint, die Schwester ihres Vaters Jimmy, beginnt Vicky auch mit der Entwicklung ihres Duftes. Julia ist gerade aus dem Gefängnis entlassen worden und Vicky kommt mit düsteren und magischen Erinnerungen in Kontakt. Sie entdeckt in der Folge die Geheimnisse ihres Dorfes, ihrer Familie und ihrer eigenen Existenz.

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