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Mit seiner Provinztragödie „R.M.N.“ spielt der rumänische Regisseur Cristian Mungiu alte Stärken aus – und fügt seinem filmischen Vokabular trotzdem neue Akzente hinzu.

R.M.N. (2022)

Eine Filmkritik von Michael S. Bendix

Die Wurzeln des Hasses

Wie jede filmische Strömung ist auch die sogenannte Romanian New Wave mittlerweile in  produktiver Vereinzelung aufgegangen. Wenn einer ihrer Protagonist:innen einen neuen Film veröffentlicht, muss das individuelle Werk nicht mehr zwingend in den Kontext einer Bewegung gestellt werden – ein Umstand, den Filmemacher wie Radu Jude („Bad Luck Banging or Loony Porn“) oder Cristi Puiu („Malmkrog“) zuletzt für ungeahnte ästhetische und erzählerische Freiräume nutzten.

Cristian Mungiu hingegen bleibt auch in seinem sechsten Langfilm dem kraftvollen Naturalismus treu, der ihn dank des Cannes-Gewinners 4 Monate, 3 Wochen und 2 Tage (2007) zum wohl prominentesten Vertreter der in den Nullerjahren entstandenen rumänischen Kinowelle gemacht hat. Und doch gibt es sanfte Unterschiede: Durch vermehrten Steadicam-Einsatz sind die oft langen Einstellungen weniger verwackelt und bewegt, und statt förmlich an den Gesichtern der Figuren zu kleben, fängt die Kamera in R.M.N. die Geschehnisse vermehrt in der Totalen ein – was zum einen Distanz erzeugt, zum anderen aber den Blick für größere Zusammenhänge öffnet.

Lange lässt R.M.N. offen, worum es ihm überhaupt geht. Zunächst sehen wir ein Kind durch einen verschneiten Wald irren und eine verstörende Entdeckung machen; kurz darauf springt der Film ins provinzielle Deutschland, wo der Rumäne Matthias (Marin Grigore) gerade seinen Job in einem Schlachthaus verliert, nachdem er sich körperlich gegen eine rassistische Beleidigung zur Wehr gesetzt hat. Es ist kurz vor Weihnachten, und Matthias trampt kurzerhand in sein transsilvanisches Heimatdorf zurück. Hier erfahren wir, dass es sich bei dem Kind, das schockbedingt seine Sprache verloren hat, um Matthias’ Sohn Rudi (Mark Blenyesi) handelt. Und wir treffen auf weitere Personen aus dem heimischen Umfeld des Mannes: seinen kranken Vater Otto (Andrei Finti), Rudis Mutter Ana (Macrina Barladeanu) sowie Matthias’ damalige Geliebte Csilla (Judith State).

Nach und nach muss Matthias feststellen, dass zwar die archaisch anmutende Berglandschaft dieselbe geblieben ist, die Umstände sich im Gegensatz zu ihm selbst aber verändert haben: Seine Versuche, dem verstummten Rudi nach Jahren der Abwesenheit sein von Härte, Dominanz und physischer Stärke geprägtes Männerbild anzuerziehen, sind zum Scheitern verurteilt. Csilla wiederum ist mittlerweile zur Chefin der örtlichen Großbäckerei aufgestiegen. Sie verzichtet auf Fleisch und bereitet sich als Kontrabassistin auf ein Orchesterkonzert vor (eine Tatsache, die der mit Musik ansonsten eher spartanisch umgehende Mungiu gleich mehrmals dazu nutzt, Shigeru Umebayashis verzaubertes Yumeji’s Theme aus In the Mood for Love ins trübe Schneematschgrau zu setzen). Die sich daraus ergebenden Reibungen stellt R.M.N. nicht plakativ kontrastierend heraus. Vielmehr werden sie als unterschwellige Beobachtungen in das von Ambivalenzen bestimmte Beziehungsgeflecht eingewoben – dabei hilft, dass Matthias bis zu einem gewissen Grad immer eine Leerstelle bleibt, der nicht vollends zu trauen ist.

Sein eigentliches Thema enthüllt R.M.N. erst, als Csilla drei Gastarbeiter aus Sri Lanka einstellt. Rassismus und Fremdenhass dringen an die Oberfläche, als hätten sie nur auf eine Gelegenheit gewartet. Nicht nur die Kirche in Gestalt des Dorfpfarrers, auch der anfangs selbst als „fauler Zigeuner“ geschmähte Matthias stimmt bald in den Chor aus Vorurteilen und Ressentiments ein – der irgendwann auch in Gewalt ausbricht. Die Perspektive verschiebt sich infolgedessen leicht zu Csilla, die nun in Opposition zur gesamten Anwohnerschaft steht – freilich, ohne selbst eine Heilige zu sein: Natürlich handelt es sich bei den Stellen in der Bäckerei um Ausbeutungsverhältnisse, nicht umsonst hat sich von den Dorfbewohner:innen wochenlang niemand auf die Ausschreibung beworben.

Es ist kein ganz neuer Ansatz, gesamtgesellschaftliche Zusammenhänge und Verwerfungen auf einen dörflichen Mikrokosmos zu verdichten, doch Mungiu hat seinen Schauplatz offensichtlich mit Bedacht gewählt: Durch seine komplizierte Geschichte – 1920 ging das bis dato autonome, von verschiedenen Bevölkerungsgruppen besiedelte Transsilvanien an Rumänien über, obwohl auch Ungarn einen Anspruch erhob – ist die Gegend, in der R.M.N. spielt, über Jahre zu einer funktionierenden multikulturellen Gemeinschaft gewachsen. Die Menschen sprechen Rumänisch und Ungarisch, aber auch Deutsch und Englisch sind zu hören. Nur mit den „Zigeunern“ will man auch hier nichts zu tun haben, wie viele nicht müde werden zu betonen – die Überwindung von Differenzen scheint eng an die gemeinsame Abgrenzung vom „Anderen“ geknüpft zu sein.

Das wird am deutlichsten in der längsten und erschöpfendsten Szene des Films, in der die Dörfler:innen in der Kirche zusammenfinden, um über den Umgang mit den Gästen zu beraten: eine 15-minütige, in einer einzigen starren Einstellung eingefangene Dialog-Choreografie, die sich schaut, als habe Mungiu einen rechten Social-Media-Kommentarstrang in die analoge Realität übertragen. Interessant wird das menschenfeindliche Hass-Pingpong dadurch, dass der Regisseur auch die sozialen Implikationen in den Blick nimmt: Fast versehentlich stoßen die Sprechenden zwischen Hetzparolen auch auf valide Kritik an ihren Lebensumständen, bevor sie einander durch das nächste xenophobe Stereotyp wieder davon abbringen, zu einem konstruktiven Kern vorzudringen. Ohne ihren Rassismus zu entschuldigen, benennt Mungiu ihn auch als fehlgeleitete Reaktion auf Armut und Abgehängtsein – als Ersatzhandlung, die sich nicht an den Verhältnissen entlädt, die den Frust hervorbringen, sondern stattdessen auf die noch Schwächeren einschlägt.

Wenn der Film vom vermeintlich Privaten in die Gegenwartsanalyse übergeht, die mehr denn je über Befunde zum Zustand des heutigen Rumäniens hinausweist, kommt Mungiu wieder vollends bei seinem Kino an – das sich diesmal wieder zwingender anfühlt als im vorhergegangenen Graduation (2016). Denn trotz expliziter politischer Verweise (auch der Nationalismus von Viktor Orbán dürfte zu den direkten Adressaten gehören) ist R.M.N. kein Themen- oder Thesenkino, dafür ist er atmosphärisch zu dringlich und formal zu gewandt. Beim deutungsoffenen Ende verabschiedet sich Mungiu schließlich sogar von seinem angestammten Realismus und lässt den Film kurz ins Fantastische gleiten. Gern würde man sehen, wie er diesen Pfad weiterverfolgt.
 

 

R.M.N. (2022)

Siebenbürgen im Winter: Wenige Tage vor dem Weihnachtsfest kehrt Matthias in sein Heimatdorf zurück. Er arbeitet mittlerweile in Deutschland. Matthias freut sich darauf, seine frühere Geliebte Csilla wiederzusehen, die im Ort eine Fabrik leitet. Besorgt ist er dagegen um seinen gebrechlichen Vater Otto und seinen Sohn Rudi, der von Ängsten geplagt wird und zu lange in der Obhut seiner Mutter Ana war. Als Csilla zwei neue ausländische Fabrikarbeiter einstellt, wird der Frieden der Gemeinschaft durch rassistische Vorurteile gestört. Unterschwellige Ängste sowie Frustrationen, Konflikte und Leidenschaften brechen unter den scheinbar verständnisvollen und ruhigen Dorfbewohnern aus.

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