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Mit seinem 18. Spielfilm hat Altmeister Jerzy Skolimowski seine Version von „Zum Beispiel Balthasar“ gedreht – formal könnte „EO“ von seinem Vorbild aber kaum weiter entfernt sein.

EO (2022)

Eine Filmkritik von Michael S. Bendix

Wenn Esel träumen

Kann ein Film die Perspektive eines Tieres einnehmen? Das haben sich in den vergangenen Jahren gleich mehrere Regisseur:innen gefragt, Victor Kossakovsky mit „Gunda“ (über ein Hausschwein), Andrea Arnold mit „Cow“ (selbsterklärend) und nun auch der polnische Altmeister Jerzy Skolimowski („Deep End“) mit „EO“, der – zumindest vermeintlich – aus der Sicht eines Esels erzählt. Während sich Kossakowski und Arnold an einer dokumentarischen Form orientierten, lässt Skolimowski jeden Ansatz von Naturalismus von Anfang an beiseite, ganz so, als hätte er die Lehren aus Andrea Arnolds „Cow“ von Anfang an verinnerlicht: Ihr Versuch, den Lebenszyklus einer Milchkuh nachzuzeichnen – von der Geburt bis zum unvermeidlichen Todesschuss –, berührt einerseits ganz unmittelbar, wenn er etwa Empathie durch wiederholte Close-ups auf leidgetränkte Nutztieraugen einfordert.

Interessant wird Cow aber erst durch sein (kalkuliertes) Scheitern und die Auseinandersetzung damit: Woraus konstituiert sich unser Mitgefühl, aus dem Schicksal der Kuh oder dessen Narrativisierung? Ist ein gänzlich wertfreier Zugriff ohne jede Vermenschlichung überhaupt möglich? Und wie ernst ist es der popnahen Filmemacherin (American Honey) tatsächlich mit dem Naturalismus – spielen die Stallarbeiter:innen den Tieren tatsächlich Billie-Eilish-Songs vor oder streut Arnold so Hinweise darauf, dass wir einer Inzenierung beiwohnen?

In diesen Kontext gesetzt, geht Skolimowski mit EO einen Schritt weiter und einen zurück. Zum einen hält er sich mit dem Versuch einer Naturtreue gar nicht erst auf – zum anderen nutzt er die daraus resultierende Freiheit für seinen wohl ausschweifendsten Film. Damit ist „EO“ auch so etwas wie die ästhetische Antithese zu jenem Film, dem er in narrativer und geistiger Hinsicht am nächsten steht: Balthazar lautete der Arbeitstitel des Films, natürlich Bezug nehmend auf Robert Bressons Zum Beispiel Balthasar, in dem der französische Regie-Minimalist das gesamte Leid der Erde auf den Rücken eines Esels lud.

Wie in Bressons Klassiker folgt auch EO (entspricht dem deutschen „I-Aah“) den Bewegungen eines Grautieres, das auf seinem Weg ganz unterschiedliche Stationen durchläuft und mit zahlreichen Menschen in Kontakt tritt. Der einzigen uneingeschränkt positiven Bezugsfigur wird EO direkt zu Anfang entrissen, in einem Versuch, ihn zu retten: Zur Artistin Kasandra (Sandra Drzymalska) hat der Esel eine innige Beziehung, wenn auch in einem alles andere als artgerechten Umfeld. Nachdem er von Tierschützern aus dem Zirkus befreit wird, landet er zunächst in einem Pferdestall – und irrt nach seinem Ausbruch scheinbar ziellos umher, wobei er immer wieder Personen begegnet, die seine Pfade beeinflussen, ihn und uns zu Zeugen menschlicher Mikrodramen machen und auch die Gestalt des Films verändern.

Es ist unmöglich, vorherzusagen, wo EO als Nächstes landet; das gilt für den Film wie für den Protagonisten. Als es den liebenswert-stoischen Esel etwa in ein Dorf verschlägt, in dem eine Provinz-Fußballmannschaft gefeiert wird wie die Nationalelf, streift Skolimowski unterschiedliche Formen: Wenn EO verloren auf dem Spielfeld steht und die Bewegungen des Balls beobachtet, würde man sich kaum wundern, stiege er in Airbud-Manier gleich selbst ins Spiel ein. Denn auch vor punktgenau gesetzten Reaction Shots, wie wir sie sonst aus Hollywoodfilmen kennen, macht Skolimowski nicht Halt. Wenn die triste Kneipenparty im Anschluss vollends eskaliert, fügt sich das ins Bild kleiner milieuspezifischer Vignetten aus dem heutigen Polen ein, die sich durch einen Film ziehen, der nicht selten vom Albernen ins Düstere driftet und von klassischer Narration ins Experimentelle – mit durchaus gemischten, aber meist interessanten Ergebnissen.

Denn nicht nur in der Wahl seiner Mittel, auch perspektivisch nimmt sich EO mit fortlaufender Zeit immer mehr Freiheiten (häufig im direkten Zusammenhang miteinander): Während sich weitwinklige Point-of-View-Einstellungen, die ein Erleben aus Eselsperspektive suggerieren, anfangs noch häufen, ist zusehends unklar, wessen Sicht unseren Blick bestimmt – außer natürlich der von Skolimowski selbst. Häufig lässt der Regisseur eine Szene weiterlaufen, selbst wenn EO längst aus dem Bild verschwunden ist. Dann wiederum platziert er die Kamera immer genau dort, wo es gerade etwas zu sehen gibt. Wie beispielsweise bei einem blutigen Raststättenmord, der ebenso aus dem Nichts kommt, wie er ohne Kontext bleibt, was für die meisten der zahlreichen Abzweigungen gilt, in die sich Skolimowskis erratischer Film verirrt.

Besonders rätselhaft wird es, wenn wir – im Inneren einer italienischen Villa, während EO im Garten auf das Ende der Szene wartet – für wenige Minuten zu Zeug:innen eines unterschwellig inzestuös aufgeladenen Mutter-Sohn-Streits werden, in dessen Zentrum eine französische Starschauspielerin steht, die Skolimowski wie einen Special Effect ins Bild rückt. Eine Reise durch die Alpen wiederum, die den Esel nach Südeuropa führt, taucht Skolimowski in glühendes Rot und inszeniert sie mit entfesselter Drohnenkamera, die durch Berglandschaften rast, bevor sie sich mit den Rotorblättern eines Windrades zu drehen beginnt. Das gleiche, „Suspiria“-artige Rot benutzt der Film, wenn er den Esel von einem Roboter träumen lässt, der mechanisch Tierbewegungen nachahmt. Ein vielleicht surrealistischer Einschub, vielleicht ein Verweis auf den Menschen, der Tierisches imitiert, weil er es kann, dem Esel am Ende aber trotzdem einen würdevollen Abgang verwehrt. Eine Texttafel vor dem Abspann macht Skolimowskis mögliche Intentionen transparent, indem sie sich für einen respektvolleren Umgang mit Tieren ausspricht. Natürlich will man dieser Botschaft nicht widersprechen – aber ginge es nur um sie allein, hätte ein weniger abenteuerlicher Film dafür ausgereicht.

EO (2022)

Der Film begleitet einen Esel namens Baltazar. Sein Leben beginnt in einem polnischen Zirkus und endet in einem italienischen Schlachthof.

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