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Mit feinem Gespür für Zwischentöne schildert James Gray in seinem autobiografisch gefärbten Coming-of-Age-Drama das Aufwachsen eines Sechstklässlers in einer von Ungleichheit geprägten US-amerikanischen Gesellschaft. Als Großvater sorgt ein famoser Anthony Hopkins für bewegende Momente.

Zeiten des Umbruchs (2022)

Eine Filmkritik von Christopher Diekhaus

Land der ungleichen Chancen

Vom Urwald über den Weltraum ins New York der 1980er Jahre: Die letzten drei Regiearbeiten des US-Filmemachers James Gray könnten unterschiedlicher nicht sein. Mit dem Entdecker-Biopic „Die versunkene Stadt Z“ tauchte er in die mystische Dschungelwelt Südamerikas zu Beginn des 20. Jahrhunderts ein. In „Ad Astra – Zu den Sternen“ schickte er Brad Pitt in der Rolle eines Astronauten auf einen großen Selbstfindungstrip. Und mit „Zeiten des Umbruchs“ legt er nun ein von eigenen Erfahrungen inspiriertes Coming-of-Age Drama vor, das gleichzeitig ein pointiertes Gesellschaftsporträt zu Beginn der Reagan-Ära entwirft.

Interessant ist schon der Originaltitel Armageddon Time, der viel wuchtiger daherkommt als das nüchterne deutsche Pendant. Der Gedanke an einen Weltuntergang, ein letztes großes Gefecht – eben das ist die Bedeutung von Armageddon – sorgt gleich für einen schicksalhaften Anstrich, lässt auf ein stark überhitztes Geschehen schließen. Im Film selbst fällt der Begriff in einem kurz angeschnittenen Fernsehinterview mit Ronald Reagan, der 1980 um den Einzug ins Weiße Haus kämpfte und düstere Zukunftsbilder an die Wand malte.

Obschon in Zeiten des Umbruchs durchaus stark aufwühlende Dinge passieren, setzt der auch für das Drehbuch verantwortliche Gray nicht auf eine billige Eskalationsdramaturgie. Vielmehr kommt sein sehr persönliches Werk betont unaufgeregt daher und überrascht immer wieder mit kleinen, feinen Seitenblicken, die viel über die Figuren, das Milieu und das soziale Gefüge verraten.

Als seinen eigenen Stellvertreter hat der in New York geborene Regisseur den 12-jährigen Paul Graff (Michael Banks Repeta) erschaffen, der im Sommer 1980 in die sechste Klasse einer öffentlichen Schule in Queens kommt. Dort freundet er sich schnell mit dem sitzengebliebenen Afroamerikaner Johnny Davis (Jaylin Webb) an. Wenig haben die beiden für den Unterricht ihres Klassenlehrers (Andrew Polk) übrig, der – schon hier zeichnet sich ein Ungleichgewicht ab – Johnnys Störereien härter bestraft als die seines weißen Kumpels. Verschieden sind auch die familiären Hintergründe der Jungen. Während Paul aus einer finanziell abgesicherten jüdischen Familie stammt, lebt Johnny in ärmlichen Verhältnissen bei seiner gesundheitlich angeschlagenen Großmutter.

Pauls Eltern Esther (Anne Hathaway) und Irving (Jeremy Strong) sehen das Desinteresse ihres Sohnes in der Schule und seine rebellischen Ausfälle mit wachsender Sorge und haben kein Verständnis für seine Ambitionen, Künstler zu werden. Wirklich ernst genommen fühlt sich der 12-Jährige allerdings von seinem Großvater Aaron Rabinowitz (Anthony Hopkins), der ihn in seinen Träumen bestärkt und bemüht ist, dem Enkel etwas fürs Leben mitzugeben.

Zeiten des Umbruchs ist – das spürt man sehr früh – kein klassisch durchgetaktetes, gewaltsam in erzählerische Muster gepresstes Hollywood-Drama, sondern ein relativ ungezwungen dahinfließender Film aufschlussreicher Alltagsbeobachtungen, der höchstens am Ende etwas schwächelt. Vielschichtig, authentisch und herrlich unterhaltsam präsentiert sich bereits im ersten Akt ein Abendessen im Hause Graff, das uns die erweiterte Familie näherbringt: Paul und sein älterer, auf eine Privatschule gehender Bruder Ted (Ryan Sell) piesacken sich permanent. Gemotzt wird über das, was auf dem Tisch steht. Mit Onkel Louis (Teddy Coluca) sitzt jemand dabei, der nie den Mund aufmacht. Und irgendwann schaukeln sich die Diskussionen ungebremst hoch. Was besonders ins Auge springt: Die Anwesenden sind in ihren Überzeugungen hin- und hergerissen, denken einerseits liberal, blicken, wie Oma Mickey (Tovah Feldshuh), jedoch auch auf weniger privilegierte Menschen, in diesem Fall Schwarze, herab. Den Status, den man sich hart erarbeitet hat, möchte man nicht mehr verlieren.

Die Widersprüchlichkeit spiegelt sich nicht zuletzt in der Reise der jungen Protagonisten. Dessen Freundschaft zu Johnny ist wahrhaftig. Gleichzeitig will Paul jedoch anerkannt werden, dazugehören und steht in manchen Momenten nicht für seinen Kumpel ein, der längst weiß, dass er nicht die gleichen Chancen hat wie andere Kids. Offener und versteckter Rassismus, Klassenunterschiede, die verzweifelte Suche nach dem American DreamZeiten des Umbruchs packt komplexe Probleme und Themen an, findet aber Wege, sie auf prägnante Weise zu betrachten, ohne ins Oberflächliche abzudriften. Von großer Bedeutung sind die Gespräche zwischen Paul und seinem Opa, der als Sohn aus der Ukraine geflohener Juden reichlich Erfahrungen mit den Härten des Lebens gesammelt hat und mit ganz pragmatischen, nicht abgehobenen Weisheiten auftrumpft.

Hoch anrechnen muss man Gray, dass er seine Geschichte nie nostalgisch verklärt. Das Zeitkolorit fängt er glaubhaft ein. Anders als viele Filmemacher*innen, die in die 1980er Jahre abtauchen, rückt er Elemente wie Musik und Mode allerdings nur selten in den Mittelpunkt. Beunruhigende Bezüge zur Gegenwart stellt sein Werk in mehrfacher Hinsicht her. Regelmäßig kommt der Pauls Familie entgegenschlagende Antisemitismus zur Sprache, der heute leider wieder massiv auf dem Vormarsch ist.

Durch den die Handlung am Rande berührenden Präsidentschaftswahlkampf werden Erinnerungen an Ronald Reagans Slogan Let’s make America great again wach. Ein Motto, das bekanntlich auch Donald Trump auf seinem Weg ins höchste Amt des Staates ausgab. Vorurteile und reaktionäre Haltungen, wie sie damals vorherrschten, sind – das zeigt ein Blick ins Hier und Jetzt – längst nicht überwunden. Trump spielt auch insofern eine Rolle, insofern dessen Vater Fred (John Diehl) und seine ältere Schwester Maryanne (Jessica Chastain) als Verkörperung der privilegierten weißen Elite kurze Auftritte in Zeiten des Umbruchs haben. Episoden, die auf realen Erlebnissen des Regisseurs basieren. Einst besuchte er nämlich eine Schule, der Trump Senior als Gönner verbunden war und in der Maryanne eine Rede hielt über die Bedeutung von harter Arbeit für ihren Erfolg.

Bei aller Wertschätzung für die behutsame Inszenierung und das facettenreiche Drehbuch ist unbestreitbar, dass der Film auch und vor allem von einigen starken Schauspielleistungen lebt. Jungdarsteller Banks Repeta gibt Paul erfrischend ungekünstelt als kreativen Freigeist, dem die sozialen Verhältnisse und die familiären Erwartungen spürbar zu schaffen machen. Jaylin Webb bringt Johnnys Wut ebenso überzeugend zum Ausdruck wie seine Hoffnung, vielleicht doch noch eine andere Abzweigung nehmen zu können. Und Anne Hathaway füllt die Rolle der engagierten, für ihren Sohn nur das Beste wollenden, an ihm aber mehr und mehr verzweifelnden Mutter mit großer Souveränität aus. Schade ist jedoch, dass ihre Figur irgendwann fast komplett aus der Erzählung verschwindet. Unglaubliche Gravitas, Wärme und emotionale Tiefe bekommt der Film durch das Spiel von Altstar Anthony Hopkins, der einen Großvater verkörpert, den sich wohl alle Zuschauer*innen nur wünschen können. In manchen Momenten reichen dem in Wales geborenen Mimen ein wehmütiger Blick oder eine kleine Geste, um uns das Innenleben dieses Mannes begreiflich zu machen – und uns im Innersten zu berühren. Ganz große Klasse!

Zeiten des Umbruchs (2022)

New York im Spätsommer 1980: Paul ist das jüngste Mitglied einer gut situierten jüdischen Familie. Doch zwischen seiner viel beschäftigten Mutter Esther, seinem bemühten, aber strengen Vater Irving und seinem streitsüchtigen Bruder Ted fühlt er sich oft einsam und verloren. Allein sein liebevoller Großvater Aaron scheint ihn wirklich zu verstehen und seine Interessen zu fördern. 

Zu Beginn des neuen Schuljahres lernt Paul den Schwarzen Jonathan kennen, einen „Sitzenbleiber“, der in ärmlichen Verhältnissen bei seiner kranken Großmutter lebt. Er freundet sich mit dem älteren Jungen an, der allen Problemen zum Trotz fest an Werte wie Ehrlichkeit und Loyalität glaubt. Doch es dauert nicht lange, bis Paul immer mehr bewusst wird, dass nicht jeder in dieser Welt die gleichen Chancen hat.
 

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Meinungen

C. O. Tannhaeuser · 23.12.2022

Eine schlechtere Umsetzung dieser Thematik ist wohl nicht zu erreichen. Hier streiten sich zwei
um den letzten Platz, Drehbuchautor und Regisseur. Dieser Film ist das Eintrittsgeld nicht wert.
Schade das sich Antony Hopkins für so etwas hergegeben hat.