Log Line

Auf differenzierter und offener Spurensuche nach der Vergangenheit ihrer eigenen Familie setzt sich Adrina Mračnikar mit der historischen und gegenwärtigen Situation der Kärntner Slowen*innen auseinander.

Verschwinden (2022)

Eine Filmkritik von Bianca Jasmina Rauch

Die Sprache als Erbin der Geschichte

Die Geschichte der Kärntner Slowen*innen ist leicht erklärt und trotzdem von Ignoranz geprägt. Adrina Mračnikar erzählt aus dem Off — mit ihrer Stimme begleitet sie die Zuseher*innen von Anfang bis Ende -, wie oft sie als Kind gefragt wurde, wann sie und ihre Familie nach Kärnten/Koroška gezogen seien. Eine Frage, die im Grundsatz völlig falsch ist, wie man spätestens nach „Verschwinden“ wissen wird. Denn die slowenische Bevölkerung zog nicht hinzu, sondern bewohnte das Gebiet des heutigen Südkärntens bereits in überdeutlicher Mehrzahl, bevor die Region nach dem Ergebnis des Referendums im Jahr 1920 Teil Österreichs statt des SHS-Staates (später Jugoslawien) wurde.

Viele Slowen*innen stimmten entgegen oftmaliger Behauptung und Anfeindung für Österreich, erklärt Mračnikar und zieht als Beispiel ihren eigenen Urgroßvater heran, der von den Kriegseinsätzen in der jugoslawischen Monarchie geprägt war und dieser den Rücken kehren wollte. Nach 1920 dominierte die öffentliche Wahrnehmung das vom nationalsozialistischen Historiker Martin Wutte forcierte Idealbild der „guten“ Kärntner Slowen*innen als „windische“, also angepasste und „deutschfreundliche“ — im Gegensatz zu jenen, die an ihrer Kultur und Sprache festhielten. Seine rassistischen Theorien sorgten nachfolgend für Ausgrenzung und Entzweiung zwischen dem slowenisch- und dem deutschsprachigen Teil der Bevölkerung.

Im Zuge der Volksabstimmung im Jahr 1920 war den Kärntner Slowen*innen eine den deutschsprachigen Bewohner*innen gleiche Behandlung versprochen worden, im Staatsvertrag unter Artikel 7 festgehalten. Nach dem Anschluss Österreichs an Hitler-Deutschland jedoch rückten jegliche Forderungen und Möglichkeiten in weite Ferne, die Fronten verhärteten sich. Der zuvor große Anteil des Slowenischen verringerte sich bald zu einer Minderheit, die bis heute immer kleiner wird. Welche Traditionen und Geschichten werden die Nachkommen fortschreiben? Was passiert mit unseren Erinnerungen, wenn sie keiner mehr versteht, fragt die Filmemacherin aus dem Off. Sprache ist nicht nur Mittel zum Zweck, sondern hält kulturelle Identitäten am Leben und trägt allein schon durch ihre Existenz Bedeutung.

Dennoch gibt es Ortstafelstreitigkeiten: Absurd muten die Berechnungen über Prozentzahlen an, mithilfe derer die Kärntner Politik 2001 entscheiden wollte, ob im Einzelfall eine topographische Aufschrift zweisprachig sein solle oder nicht. Wenn mindestens 17,5 Prozent der Bewohner*innen eines Ortes slowenischsprachig sind, sollen die Tafeln auf Deutsch und Slowenisch sein. Eine schwache Entscheidung 30 Jahre nach dem erschütternden Ortstafelsturm, in dem rechte Personen und Gruppierungen neu aufgestellte zweisprachige Ortstafeln beschmierten und umwarfen. Und heute? Viele Gemeinden bleiben bei der Einfahrt auf der Straße namenlos, der Kärntner Heimatdienst und der verstorbene FPÖ-Politiker Jörg Haider befeuerten die Debatten jahrelang mit nachhaltigem Erfolg.

Fernsehberichte über jene Ereignisse verdichten sich zusammen mit Besuchen bei und Interviews mit Verwandten und Bekannten Mračnikars zu einem stimmigen roten Faden, zu einer Collage von Medienbildern, erlebten Realitäten und den daraus resultierenden absurden Widersprüchen, dass man erstaunt und berührt zugleich im (Kino-)Sessel zurückbleibt. Bereits in vorangegangen kürzeren Arbeiten der Regisseurin schilderten Weggefährt*innen ihre Situation: In Der Kärntner spricht Deutsch/Andri 1924-1944 erfahren wir von Mračnikars Großonkel, der als Partisane hingerichtet wurde.

In Verschwinden wird die Bedeutung von oral history, also dem subjektiven Erinnern und Erzählen, durch Mračnikars Interviewpassagen evident: Dass viele Kärntner Slowen*innen während der NS-Zeit ins Konzentrationslager gebracht wurden, wie Mračnikars Familie erzählt, scheint für so manchen Landespolitiker historisches Neuland zu sein — ein entsprechendes Denkmal gibt es auch keines. Der Kärntner Landeshauptmann Peter Kaiser ehrt dafür mit Kranz und Ansprache das ehemalige NSDAP-Mitglied Martin Wutte und ist sich im Interview mit der Filmemacherin der Problematik auf selbstbewusste Art nicht bewusst.

Resigniert wirken dagegen viele der befragten Kärntner Slowen*innen, die alltäglichen Ausgrenzungen und Hetze heute immer noch begegnen. Personen in dominanten Positionen bestimmten den öffentlichen Diskurs, indem sie von einer Geschichte Kärntens ohne Unterdrückung Reden schwingen. Ein wichtiger Moment, der in Verschwinden zu sehen ist, stellte die Entschuldigung Alexander Van der Bellens anlässlich des Festakts „100 Jahre Kärntner Volksabstimmung“ dar. Der Bundespräsident bat die Kärntner Slowen*innen um Verzeihung für die fehlende Einhaltung des Artikel 7 – Reaktionen und Folgen auf seine Worte blieben aber verhalten, änderten die Lage nicht, so eine Interviewte.

Mračnikar gelingt es, Fakten, Erlebnisse und die eigene Erfahrung mit der Unterdrückungsgeschichte der Kärntner Slowen*innen zu einem filmischen Plädoyer für Gerechtigkeit zu verbinden. Kamerafrau Judith Benedikt kreiert Bilder in einem situativ ausgewogenen Verhältnis aus Nähe und Distanz, mit dem sie bereits in Weiyena von Weina Zhao ihre präzise Vorgangsweise bewies. Landschaftsbilder Südkärntens und von Koroška begleiten und visualisieren auf einer weiteren Ebene Erinnerungen und Emotionen. Das im Verfall befindliche Haus der Großmutter fügt sich der prekären Lage des Slowenischen in Kärnten, das trotz Kunstinterventionen im öffentlichen Raum und Bildungseinrichtungen zu einem immer selteneren Relikt wird.

Verschwinden (2022)

In Südkärnten sprachen vor 1910 zirka neunzig Prozent aller Bewohner*innen Slowenisch, heute ist es durchschnittlich ein einstelliger Prozentsatz. Andrina Mračnikar formuliert in ihrem essayistischen Dokumentarfilm auf persönliche Weise eine hochpolitische Dringlichkeit: Was passiert, wenn einem die Muttersprache im Alltag genommen wird? Was muss die Politik tun, um dem Verschwinden einer Sprache, deren Schutz in der Verfassung festgeschrieben ist, entgegenzuwirken?

  • Trailer
  • Bilder

Meinungen