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Die Krankheit Tourette hat nicht allein mit Schimpfwörtern und Fluchen zu tun. Auch wenn das im Kino manchmal so scheint. Worunter die Betroffenen leiden und was sie von uns allen brauchen – das zeigt die einfühlsame Dokumentation von Thomas Oswald.

Tics - Mit Tourette nach Lappland (2021)

Eine Filmkritik von Peter Gutting

Ruhig zuckt der See

Im Kino kann das Tourette-Syndrom lustig sein. Etwa in der charmanten Außenseiter-Komödie „Vincent will meer“ (2010) von Ralf Huettner. Da stößt die Titelfigur in den unpassendsten Momenten vulgäre Schimpfwörter aus — zur Erheiterung des Publikums und zur Beschleunigung der Chaosspirale. Vincent tut das nicht böswillig, er kann nicht anders – wegen seiner Krankheit. Für den Betroffenen ist das keineswegs komisch, und der Schimpförter-Tic ist auch nicht der einzige, nicht einmal der häufigste. Darüber klärt der neue Dokumentarfilm von Thomas Oswald auf. Er legt dar, was Tourette eigentlich ist, worunter die Betroffenen am meisten leiden und welche Therapieversuche es gibt.

„Von der Natur werde ich akzeptiert“, sagt Daniel. Er sitzt an einem See auf der Fahrt nach Lappland. Die Gegend ist menschenleer, keinen stört es, wenn Daniel merkwürdige Laute von sich gibt. Niemand sieht hin, wenn sein Gesicht zuckt. Die Flucht vor den Menschen bringt dem jungen Mann ein Stück Ruhe – und sollte jedem im Publikum zu denken geben. Warum können wir andere Menschen nicht so akzeptieren, wie sie sind, egal ob ihnen ein Arm fehlt, ob sie im Rollstuhl sitzen oder ob sie mit dem Kopf zucken, ohne es zu wollen? Und das, obwohl alle Menschen, auch die ohne äußere Auffälligkeiten, das Bedürfnis haben, in ihrer jeweiligen Besonderheit angenommen zu werden?

Daniel leidet unter dem Tourette-Syndrom, genau wie Marika und Leo. Die drei reisen mit dem Neurologen Alexander Münchau und dem Psychiater Daniel Alvarez-Fischer gen Norden, wo die Seen und die Mücken immer zahlreicher und die Leute immer weniger werden. Es ist der Versuch, Linderung für eine vermutlich vererbte Krankheit zu suchen, unter der sie seit ihrer Kindheit leiden und für die es keine Heilung im gängigen Sinn gibt. Münchau und Alvarez-Fischer hegen die Hoffnung, dass ein Umlenken der Aufmerksamkeit helfen könnte. Also: nicht ständig an Tics denken und daran, wie sie auf Außenstehende wirken. Sondern sich der unberührten Natur zuwenden, zur Ruhe kommen, sich auf etwas anderes konzentrieren. In der Theorie sollen dadurch die Tics nachlassen und ein Erinnerungsraum entstehen, den die „Touretter“ auch nach ihrer Heimkehr immer wieder aufrufen können, um aus stressigen Situationen in die Ruhe zurückzukehren. Ob das funktioniert, wurde noch nie erprobt, die Reise nach Lappland ist ein Experiment.

Gleich zu Beginn räumt Neurologe Münchau mit einem verbreiteten Vorurteil auf. Tourette bedeute nicht, dass jemand dauernd „Arsch“ oder Ähnliches ruft, das sei weit weniger häufig als ein undefinierbarer Ton. Die Definition laute ganz einfach, dass jeder, der mehrere motorische und vokale Tics hat, die vor dem 18. Lebensjahr anfangen und länger als ein Jahr andauern, an Tourette leide. Wie unterschiedlich die Ausprägungen sein können, lässt sich an den drei Protagonisten beobachten. Daniel gibt laute Töne von sich und zuckt, Marikas Tics sind weit weniger auffällig und Leo wirft in heftigen Zuckungen den Kopf nach hinten oder zur Seite.

Thomas Oswalds Dokumentation ist aber keineswegs ein medizinisches Lehrbuch in visueller Form. Der Film beginnt betont sachlich, mit Besuchen bei verschiedenen Experten, mit Gesprächen vor schwarzem Hintergrund, mit Fahrten in beengten Bahnen und überhaupt mit der typischen Hektik urbanen Lebens. Durch den Beginn des Roadmovies drängt anschließend auch die Optik ins Freie. Die Kamera steigt in die Lüfte, die Einstellungen lassen Licht und Luft herein. Die Ruhe, wohltuend für die Betroffenen, überträgt sich in den Zuschauerraum. Etwa wenn Daniel, Marika und Leo zu Aufmerksamkeitsübungen angehalten werden: Der meditative Flow spiegelt sich im Glänzen eines Sees, im Licht der nie untergehenden Sonne des nordischen Sommers, im Grün der Kiefernwälder.

Wissenschaftler würden ein Fazit des Experiments erwarten. Aber der Film verkneift sich das. Er lässt das Publikum entdecken, welche Effekte die Reise auf die drei Touretter hat. Bei wem sie stärker wirkt, bei wem weniger gut und welche Erleichterung insgesamt die fehlende Bewertung von außen bringt. Dabei ist nicht nur etwas über eine vergleichsweise seltene Krankheit zu lernen, sondern auch über das eigene Leben. Wer zu sehr auf seinen inneren Zustand fokussiert und praktisch nie im Außen lebt, gerät in einen Teufelskreis zunehmender Verspannung. Wer hat noch nicht erlebt, dass das krampfhafte Vermeidenwollen eines Versprechers genau diesen erst produziert?

 

Tics - Mit Tourette nach Lappland (2021)

Daniel, Marika und Leo wollen ihr Tourette erforschen. Regisseur Thomas Oswald begleitet die Drei in seinem Dokumentarfilm „Tics – Mit Tourette nach Lappland“ auf ihrer Suche nach neuen Behandlungsformen und einem Ort, an dem sie einfach sie selbst sein dürfen. (Quelle: Salzgeber)

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Meinungen

Michael Klant · 15.07.2022

Direct Cinema at its best
TICS ist ein sehr berührender und ungewöhnlicher Dokumentarfilm. Seine Grundlage ist das Vertrauen der unter dem Tourette-Syndrom Leidenden, das Filmemacher Thomas Oswald offensichtlich gewonnen hat. Seine Empathie überträgt sich auf die Kinobesucherinnen und -besucher und man beginnt zu verstehen, dass es ein doppeltes Leiden ist: an den eigenen Beschwerden gleichermaßen wie an Akzeptenzproblemen durch die Gesellschaft.
Dokumentarfilme, die für Kinovorführungen gedacht sind, müssen in der Regel einen leichten Zugang zu ihrem Thema ermöglichen, da die Filme sonst nicht ins Programm kämen. Das trifft zum Beispiel für die Ballett- oder Musikfilme von Wim Wenders zu, bei dem Thomas Oswald studiert hat. Sein eigener Ansatz ist ein vielfältig schwebender, der sich auch auf die abwechslungsreiche Dramaturgie des Films auswirkt: anfangs eine medizinisch-wissenschaftliche Reportage mit Interviewanteilen, dann ein Roadmovie mit traumhaften Landschaftsaufnahmen, stellenweise kommt finnlandtypische Esoterik ins Spiel; insgesamt ist es die Dokumentation eines Experiments mit ungewissem Ausgang.
Da der Filmemacher nie selbst eingreift, muss er mit seiner Handkamera auf das Geschehen nicht nur reagieren, sondern es möglichst antizipieren. Fotokünstler Henri Cartier-Bresson hätte vom „moment décisif" gesprochen, beim Film sind es die „scènes décisives“, die es einzufangen gilt. Dies ist Thomas Oswald intuitiv, mit überzeugenden, ansprechenden Kadrierungen gelungen.
TICS leistet, was ein Dokumentarfilm soll: informieren, aufklären, mit hineinnehmen und Verständnis wecken: Direct Cinema at its best.

Clemens Brogi · 30.06.2022

Drei junge Protagonisten, von denen die Frau an ihren eher unauffälligen Symptomen viel stärker leidet, als die beiden sehr auffälligen Männer.
Ergreifend die Frau, aber auch, wieso macht sie diese Reise mit den Beiden, die ganz andere Probleme haben? und weiso mit diesen 2 fragwürdigen Therapeuten (typische Redewendung "es ist wie es ist") und abends singewn die 2 in Finn/Lapp/land echt esororisches Zeugs.
Überhaupt der Soundtrack: Oh No! Ein sehr schlechter Film:
auf der langen langen Reise im roten VW-Bully durch eintönige finnische Fichten-dominierte Landschaften wird ausschließlich über je eigene Tourette Erfahrungen geredet, und zwar sowas von redundant, und nicht einmal über aktuelle Reiseeindrücke..
In Lappland gibts noch eine samische Schamanenfamile in einer lähmenden Viertelstunde am Lagerfeuer zusammen mit der dt. 5er-Gruppe.
Mein Einwand bezieht sich nicht auf die Protagonisten , sondern auf die Filmemacher, die zweifellos große Teile des Filmmaterials nicht verwendet haben, Die wollten wohl eine Botschaft verbreiten.
Welche? Eine Ahnung.: Support der 2 unterirdischen Therapeuten? Ein sehr schlechter Film!

Tillmann Osterberg · 13.07.2022

Es müssen qualvolle 94 Minuten für Herrn Brogi gewesen sein. Schade, dass er so wenig mit der eindrucksvollen finnischen Natur anfangen konnte, schade, dass er die wirklich tolle Musik nicht genießen konnte und auch schade, dass er es nicht spannend fand, zu sehen, wie unterschiedlich die Ausprägungen von Tourette sein können und welche Probleme dies für die Betroffenen mit sich bringen kann. Für mich ist "TICS - mit Tourette nach Lappland" ein sehr einfühlsamer Film, durch den ich viel neues über Tourette gelernt habe. Der Filmemacher hat es geschafft, das Vertrauen der Protagonisten zu gewinnen, so dass wir viel über ihr Leid und ihre Gedanken erfahren konnten. Dazu war der Film eine tolle Reise in eine tolle Region dieser Erde. Herr Brogi, es tut mir sehr leid, dass sie dies alles so nicht sehen konnten.