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Bertrand Bonellos essayistischer Film „Coma“ befasst sich mit dem alptraumhaften Gedankenstrom einer jungen Frau im Lockdown.

Coma (2022)

Eine Filmkritik von Dobrila Kontić

Flucht ins Surreale

Selbstverständlich war zu erwarten, dass sich der ein oder andere Film auf der diesjährigen Berlinale mit der Pandemie auseinandersetzen würde. Doch was der französische Regisseur Bertrand Bonello („Nocturama“, „Zombi Child“) mit seinem filmischen (Alp)Traum-Essay „Coma“ in der Sektion Encounters präsentiert, ist trotz seiner Konzentration auf die gedankliche Situation im Lockdown zeitloser als erwartet.

Im Mittelpunkt von Coma steht eine kaum 18-jährige Jugendliche (Louise Labeque), die der Pubertät langsam entwächst und ihre Tage während des Lockdowns in Frankreich allein in ihrem Zimmer verbringt. Hier ist sie fortlaufend ihren aufgrund der Ungewissheit und Langeweile in viele Richtungen streuenden Gedanken und einem stetigen Strom an Online-Content ausgesetzt. Dabei haben es ihr vor allem die Youtube-Videos einer gewissen Patricia Coma (Julia Faure) angetan, einer elegant-enthoben wirkenden Lifestyle-Influencerin, die den Produktverkauf auf ihrem Kanal mit halbseidenen philosophischen Betrachtungen zum freien Willen koppelt. Offline lässt die Protagonistin ihre Barbie-Puppen (im Original leihen u.a. Laetitia Casta, Gaspard Ulliel und Louis Garrell ihnen ihre Stimmen) ein romantisches Drama aufführen, das im Verlauf von Coma zum Psychohorror mutiert. Da fängt die blonde Surfertyp-Puppe „Scott“ plötzlich an, ein Medley an Donald Trump-Zitaten von sich zu geben, bevor er schließlich schaurige Mordfantasien gegenüber seiner schockierten Puppenfreundin Sharon ausspricht.

Was wirr und undurchdringlich anmuten mag, ist in Coma überraschend kurzweilig und interessant geraten. Dies liegt vor allem an der sequenziellen Abwechslung, die dieser Film bietet: Auf Interviewschnipsel folgen animierte Passagen, Live-Action-Puppenspiel und Überwachungsaufnahmen von den gelegentlichen Spaziergängen der jungen Frau. Fortlaufend wandert diese zwischen Youtube-Videos, einem wiederkehrenden Alptraum im Wald, ihrem Puppenhaus und gelegentlichen Videochats mit ihren Freundinnen hin und her. In letzterem dringt die Serienmörder- und True Crime-Obsession, die die Freundinnen während des Lockdowns teilen, scheinbar in die Wirklichkeit. Die Grenzen verschwimmen zunehmend und während in Interviewschnipseln Philosoph Gilles Deleuze eindringlich davor warnt, zum Gegenstand der Träumerei Anderer zu werden, scheint nichts mehr die junge Frau davor zu schützen, sich von der stetigen Kakophonie der pandemischen Gegenwart gänzlich in eine selbstzerstörerische surreale Welt zu flüchten.

Wie schon in seinen Filmen Nocturama und Zombi Child stellt Bonello mit Coma eine ungeheure Sensibilität für die nachovllziehbaren Sorgen und Nöte der gegenwärtigen Jugend unter Beweis. Dies offenbart sich vor allem in der unvertonten Rahmung dieses Films: Sie besteht aus Passagen aus einem Brief Bonellos an seine Tochter Anna, die während des Lockdowns in Frankreich 18 Jahre alt wurde. Bonello macht hierin keinen Hehl aus dem desaströsen Zustand der Gegenwart und der Welt, die der (noch) schuldlosen Jugend von vorangegangenen Generationen hinterlassen wird. Aber dennoch scheint hier wie im stetig destruktiver werdenden Gedankenstrom der Protagonistin immer wieder Hoffnung durch – auf eine Zeit nach der Dunkelheit, oder, wie es im Brief heißt, auf den Frühling, der auf jeden Winter, egal „wie lang und kalt“, folgen wird. Und dies lässt in seiner liebevollen Eindringlichkeit Coma als sehr viel mehr erscheinen als einen zwischen Panik und Durchhalte-Parolen schwankenden Lockdown-Film: ein zeitloses und aufrichtiges Plädoyer für die Hoffnung auf Erneuerung.

Coma (2022)

Die Tochter von Bertrand Bonello ist gerade 18 Jahre alt geworden, als sich eine globale Gesundheitskrise ereignet. Im Lockdown lebt sie wie in einem Zwischenreich: Sie hängt ihren Träumen nach, chattet mit Freund*innen, folgt einer Influencerin namens Patricia Coma und kauft von dieser ein Gerät, das „Revelator“ heißt und sie zur Beschäftigung mit der Frage führt, wie frei ihr Wille wirklich ist.
Bonello, einer der scharfsinnigsten Vertreter des französischen Kinos, beglückt uns in Coma mit einem Kommentar zur Pandemie und überraschend viel schwarzem Humor. Angesiedelt zwischen Essay und Fantasy, zeigt der Film die väterlichen Bemühungen, sich in das Dilemma seiner Tochter einzufühlen, und gleichzeitig die weitverbreitete Angst um die Zukunft unserer Kinder. Unter Einsatz von Animation und Stop-Motion werden Beobachtungen zur globalen Erwärmung und Geopolitik angestellt oder aber zu unserer anscheinenden Unfähigkeit zur angemessenen Analyse der Verhältnisse. Abseitige Obsessionen, zweifelhafte Vorbilder und Geschlechterbeziehungen von vorgestern – es gibt viele Gründe, warum die virtuelle Welt Eltern Angst machen kann. Es sei denn, sie wissen, wie Bonello, dass Vertrauen das wichtigste Geschenk ist, das man seinem Kind machen kann.

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