Log Line

Würde man helfen, wenn persönliche Feinde von einem Horror-Killer entführt werden? Der spanische Film Piggy liefert Gemetzel mit moralischem Überbau – aus der Perspektive einer dicken jungen Frau, die für ihr Aussehen gemobbt wird.

Piggy (2022)

Eine Filmkritik von Mathis Raabe

Body (Shaming) Horror

Die Stereotypisierung und Ausgrenzung von dicken Menschen ist eine im gesellschaftlichen Diskurs stark unterrepräsentierte Form der Diskriminierung. Derartige Wunden zu erkennen und den Finger nicht nur hineinzulegen, sondern hineinzubohren, zeichnet viele herausragende Horrorfilme aus. Zudem: Das Versprechen des Splatter-Kinos, dass man sich über einen Stellvertreter-Körper auf kathartische Art und Weise mit der eigenen Verletzlichkeit und Sterblichkeit auseinandersetzen kann – wie könnte man es spektakulärer umsetzen als mit einem möglichst großen Körper. Trotzdem fallen einem gerade zum Thema Fat Shaming nicht allzu viele Horrorfilme ein. Ein Manko. 

In einer Episode des Anthologie-Films ABCs of Death schneidet sich die Protagonistin nach Mobbing-Erfahrungen den eigenen Körper mit einem elektrischen Messer schlank. So plakativ der Kurzfilm ist, finden sich in den Kommentarspalten viele Menschen, die darin eine passende Abbildung ihrer Gedankenwelt nach einer Mobbing-Erfahrung sehen.

Häufiger findet man im Horror-Kino aber die Reproduktion von Stereotypen – den meist männlichen dicken Antagonisten, der sich über die Abkürzung und Verkürzung des Aussehens  leicht als Bösewicht zeichnen lässt, oder das dicke Opfer, das auf Grund von mangelnder Fitness von den Zombies als erstes gefressen wird. Und natürlich sind dicke Menschen selten die Hauptfiguren. Anders ist es nun bei Piggy, dem Langfilm-Debüt der spanischen Regisseurin Carlota Pereda, das beim diesjährigen Sundance seine Premiere feierte. Es ist eine Verlängerung ihres gleichnamigen Kurzfilms. Dieser erhielt online viel Zuspruch und wurde auf YouTube fast zwölf Millionen Mal gesehen.

Die Hauptdarstellerin ist geblieben: Laura Galán spielt Sara, eine ländlich lebende Teenagerin, die von den anderen jungen Menschen gemobbt und nur als „Cerdita“ (Schweinchen) angesprochen wird. Der filmische Horror tritt zunächst ganz unauffällig neben die reale psychische Gewalt. Bei einer Mobbing-Szene am Pool übersieht man fast, dass im Hintergrund bereits eine Leiche schwimmt. Ein Serienmörder treibt im Dorf sein Unwesen. Als Sara dann miterleben muss, wie ausgerechnet ihre Peinigerinnen entführt werden, steht sie vor einer moralischen Frage: Hilft sie, indem sie das Gesehene der Polizei mitteilt, oder nicht?

An dieser Stelle endete der Kurzfilm und ließ die Zuschauer*innen mit der Frage allein. In den achtzig Minuten, die dem Plot nun hinzugefügt werden, sieht man während des Finales, dass Sara klar Position bezieht. Regisseurin Pereda will eine ambivalente Geschichte erzählen, die sich von jenen Horrorfilmen abgrenzt, die nur auf das Spektakel der Rache setzen. Ein Carrie-Vergleich liegt nahe. Auch in Piggy gibt es eine Szene über Periodenblut und Peinlichkeit. Als sich zwischen Sara und dem Killer sexuelle Spannungen entwickeln, schießt Pereda, die auch das Drehbuch geschrieben hat, mit den Ambivalenzen aber übers Ziel hinaus. Ist die Implikation, dass Sara sich so selten als begehrenswert wahrnimmt, dass selbst ein schmieriger Serienmörder sie um den Finger wickeln kann? Eine Masturbationsszene lässt viele Fragezeichen zurück, unterhält aber zumindest mit dem überraschenden Schnitt auf eine Marienstatue. 

Überhaupt entwickelt Piggy im zweiten Drittel überraschend viel Humor, wenn zum Beispiel der Nebenplot eines entlaufenen Bullen verfolgt wird. Stereotype bleiben dabei leider nicht ganz aus: So managt Sara Stress, indem sie heimlich Süßes isst, und wird einmal sogar mit Süßigkeiten wie ein Hund geködert. Als der Film schließlich zum moralischen Dilemma in seinem Zentrum zurückkehrt, verpackt er es in ein Finale voller Körperflüssigkeiten, und liefert dann endlich, nach viel passivem Leiden, auch den Moment, in dem Selbstbewusstsein in den blutbesudelten Körper der Hauptfigur zurückkehrt.

Piggy ist ein unterhaltsamer Genremix, kann aber nicht wirklich Neues zum Thema Fat Shaming beitragen. Dennoch ist die Perspektive, die er darstellt, in den meisten Kinoprogrammen unterrepräsentiert und allein dafür lohnt dieser Film. Schön wäre es, Laura Galán demnächst in einer Hauptrolle zu sehen, die ihr Aussehen gar nicht zum Thema hat.

Piggy (2022)

Die Metzgerstochter Sara wird von den anderen Mädchen ihrer Klasse wegen ihres Übergewichts systematisch gemobbt und gedemütigt. Als sie durch einen Zufall herausfindet, dass eines der Mädchen, das sie gequält hat, entführt wird, schweigt sie. 

  • Trailer
  • Bilder

Meinungen

Sven · 16.09.2022

Kann dem letzten Satz nur zustimmen: Die Hauptdarstellerin ist großartig. Das Pacing hat für mich leider nicht ganz funktioniert.Trotzdem kein schlechter Film...und tatsächlich mal eine neue Perspektive.

Hallo · 15.09.2022

Tolle Kritik! Auch gestern gesehen, kann ich so unterschreiben