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Jean-Pierre Jeunet meldet sich in „Bigbug“ nach fast zehn Jahren mit einer neuen magischen Filmwelt zurück. Zwischen unzähligen wundervollen und charmanten Einfällen gerät dem Film dabei aber aus dem Blick, wovon diese Welt eigentlich zusammengehalten werden soll.

Bigbug (2022)

Eine Filmkritik von Lars Dolkemeyer

Die letzten Menschen und Maschinen

Jean-Pierre Jeunet gehört sicher zu den prägendsten und eigenwilligsten Filmemachern des jüngeren europäischen Kinos. Der popkulturelle Einfluss eines Films wie „Die fabelhafte Welt der Amélie“ (2001) etwa auf die frühen 2000er Jahre lässt sich wohl kaum überschätzen. Jeunets Filme spielen dabei meist in Welten, die erfüllt sind von einer schwer fassbaren und irgendwie alltäglichen Magie. Nach einer fast zehnjährigen Pause erscheint nun auf Netflix Jeunets neuer Film „Bigbug“ mit einer ebenso magischen, aber weit in die Zukunft verlegten Welt, die erfüllt ist von schrulligen Robotern und nicht weniger schrulligen Menschen.

Frankreich im Jahr 2045 ist ein wunderbarer und schrecklicher Ort zum Leben: Die Welt im klinisch sauberen Einfamilienhaus ist bestimmt von allerlei Robotern, die den Menschen das Alltägliche in jedem Detail abgenommen haben. Im aalglatt-pastelligen Haus von Alice (Elsa Zylberstein) ist Max (Stéphane De Groodt) zu Besuch, um die attraktive geschiedene Frau nach allen Regeln der Kunst zu verführen. Monique (Claude Perron) ist Alice‘ Hausmädchen-Roboter. Sie kümmert sich derweil mit mechanischer Präzision um die Küche, während sie analytisch die unzweideutigen Erregungszustände von Max beäugt. Dessen Sohn Léo (Helie Thonnat) ist auch dabei und unerwartet trifft Alice‘ Ex-Mann Victor (Youssef Hajdi) mit seiner neuen Freundin Jennifer (Claire Chust) ein, um die gemeinsame Tochter Nina (Marysole Fertrad) für den anstehenden Urlaub bei ihrer Mutter abzugeben. Die Nachbarin Françoise (Isabelle Nanty) vervollständigt das wilde Ensemble – und plötzlich verriegelt die Haussteuerung Nestor (gesprochen von Benoît Allemane) die Eingangstür. Eine diffuse, staatlich angeordnete Gefahrenstufe herrsche draußen, die einen vorübergehenden Lockdown erforderlich mache. Dann fällt auch noch die Klima-Anlage aus.

Bigbug präsentiert in diesem limitierten und zugleich zum Überlaufen vollen Szenario eine ganze Revue charmanter Ideen. Hinter jeder Tür, aus jeder unsichtbaren Wandverkleidung erscheint fast im Minutentakt ein neuer abgedrehter mechanischer Einfall: vom 50er-Jahre-Hausmädchen über die sprechende Albert-Einstein-Steampunk-Büste (gesprochen von André Dussollier) bis zum zurückhaltenden und etwas einfältigen Staubsaugerroboter – um nur eine winzige Auswahl des nicht enden wollenden Reigens zu erwähnen.

Während die menschlichen Eingesperrten sich mit ihren hochgradig ambivalenten Gefühlen herumschlagen müssen und darüber diskutieren, wie sie nun vorgehen, wer überhaupt in welchem Bett schläft und wie zur Hölle sie die Tür öffnen können, treffen sich die Roboter des Hauses im Geheimen. Sie haben es satt, nicht als gleichwertige Gegenüber ernstgenommen zu werden, sie wollen geliebt werden, sie wollen fühlen können und Humor verstehen – sie wollen endlich auch Menschen sein. Nun haben sie eine Gelegenheit, um ihren menschlichen Besitzer*innen zu zeigen, wie viel mehr in ihnen steckt als bloße Mechanik.

Während Fernsehbilder davon berichten, dass in der Außenwelt die neuen Polizei-, Militär- und Überwachungsroboter der Yonyx-Serie (Sébastien Gill) offenbar nach der Auslöschung aller Menschen und aller anderen, unterlegenen Roboter trachten, ergibt sich durch die immer wieder zwischen den Eingesperrten und ihren Hausrobotern wechselnde Perspektive ein ungewöhnlich komplexes Verhältnis: Was bedeutet es, ein Mensch in einer gänzlich von Maschinen durchwirkten Welt zu sein? Was ist eine Maschine in einer Welt, in der das wahrhaft Menschliche noch mit letzter Kraft seinen Platz behauptet? Alice ist leidenschaftliche ‚Antiquitäten‘-Sammlerin. Kunstobjekte und Alltagsgegenstände unserer Gegenwart werden unter Glashauben und in den Bücherregalen ihres Hauses zu den Zeugen jenes Moments, an dem die Menschheit noch die letzten Sekunden von Autonomie erlebt hat.

So interessant dieses Geflecht der quer miteinander verbandelten Menschen und der nach Menschlichkeit sich sehnenden Maschinen in den eng umgrenzten Wänden des Settings sein mag, so wenig ist hinter aller Begeisterung für wahnwitzige Erfindungen klar, worum es Bigbug eigentlich geht. Immer wieder zeigt der Film etwa die Reality-Serie „Homo Ridiculus“, in der Yonyx-Roboter angeleinte und eingesperrte Menschen zutiefst erniedrigen, sie auf die Biologie ihres Tierseins reduzieren. Schließlich kommt es zum Showdown zwischen diesen neuen, von aller Einfühlsamkeit befreiten Maschinen und dem unbeugsamen Grüppchen im Haus, das sich über alle Wesensgrenzen hinweg verbünden muss.

Darüber gerät dann die Suche nach Befreiung von der mechanischen Berechenbarkeit aus dem Blick, die zuvor das Verhältnis der Roboter und Bewohner strukturiert hatte. Deutlich wird der wachsende Orientierungsverlust des Film schließlich an einem zwar wunderbar verschrobenen, aber eben nicht mehr ganz in die Linien des Films einzuordnenden Epilog, der noch einmal weitere Wendungen in die vielen Beziehungen einzuziehen versucht. Jeunets Feuerwerk mag charmant und liebenswert in allen bezaubernden Feinheiten sein, am Ende fehlt Bigbug ein größerer Rahmen, der diese noch zusammenhalten könnte.

Bigbug (2022)

Im Jahr 2050 sind die Menschen umgeben von künstlicher Intelligenz, die all ihre Wünsche und Sehnsüchte erfüllt – selbst die geheimsten und verdorbensten.

Vier Haushaltsroboter beschließen plötzlich, ihre Menschen in deren Häusern in einem beschaulichen Wohngebiet als Geiseln zu nehmen. Während die neueste Androiden-Generation, genannt Yonyx, vor der Tür die Macht an sich zu reißen versucht, müssen eine dysfunktionale Patchwork-Familie, eine aufdringliche Nachbarin und ihr unternehmerischer Sexroboter, die gemeinsam gefangen gehalten werden, in einer zunehmend hysterischen Atmosphäre miteinander klarkommen. Vor den Augen ihrer verwunderten Hausroboter betrügen sie einander, werden eifersüchtig und lassen ihren Frust aneinander aus – während die Gefahr immer näher kommt.

Vielleicht haben die Roboter doch eine Seele – oder etwa nicht?

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