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Filip Jan Rymszas Film über einen New Yorker Banker kurz vor der Finanzkrise im Jahr 2008 feierte bei den 77. Filmfestspielen von Venedig Premiere. Das deutsche Publikum bekommt ihn beim Fantasy Filmfest zu sehen. Denn Börsenspekulation ist purer Körperhorror.

Mosquito State (2020)

Eine Filmkritik von Falk Straub

Eine Branche voller Blutsauger

Über die Wall Street ließe sich prima ein Vampirfilm drehen, sind deren Akteure doch so geldgeil, dass sie die Märkte bis zum letzten Tropfen auspressen. Der Vampir wäre allerdings eine zu verführerische Figur. Um attraktive Blender wie Michael Douglas‘ Gordon Gekko geht es Filip Jan Rymsza nicht. Der polnischstämmige Regisseur begreift die Finanzbranche als einen Schwarm lästiger Stechmücken.

Nein, attraktiv ist Rymszas Hauptfigur nicht. Die Gesichtszüge des Analysten Richard Boca (Beau Knapp) sind ein wenig schief, seine Körperhaltung ist noch krummer. Auf Partys lungert er am Rand herum, obwohl er im Zentrum stehen müsste. Denn der von ihm entwickelte Algorithmus hat seinem Boss Edward Werner (Olivier Martinez) und Richard selbst ein Vermögen eingebracht. Er wohnt in bester Lage mit Blick auf den Central Park. Dort gehört ihm nicht nur ein spartanisch möbliertes Apartment, sondern gleich das ganze Stockwerk, wovon kaum einer weiß. Richard ist ein Mann der Zahlen, nicht der großen Worte. Dafür ist sein Kollege Beau Harris (Jack Kesy) zuständig, der so ausschaut, wie er heißt, und am Arbeitsplatz wie ein Schulhofschläger auftritt. Manche Dinge ändern sich anscheinend nie.

In Rymszas Film ist indessen alles in Veränderung begriffen. Als Richard merkt, dass in diesem Sommer 2007 an den Finanzmärkten irgendetwas schiefläuft, ändert er seinen Algorithmus. Bislang basierte der auf dem Verhalten von Bienen, doch nachdem Richard von einem Moskito gestochen wurde, modelliert er ihn neu, nach dem Vorbild eines Mückenschwarms. Die stechende Erkenntnis verwandelt auch den Protagonisten, der es den blutsaugenden Biestern erlaubt, sich bei ihm häuslich einzunisten. Bald summt und surrt es in seiner Luxuswohnung und Richards Körper wird zur Lebensversicherung für die Insekten. Kafka lässt grüßen.

Mosquito State ist einer dieser Filme, der seine Metaphern als Metaphern verwendet und gleichzeitig wörtlich nimmt. Die Stiche einer Branche, die nicht nur den Märkten, sondern auch ihren eigenen Leuten zusetzen, stehen Richard ins immer stärker anschwellende Gesicht geschrieben, was zu einer gleichermaßen grotesken wie poetischen Form des Körperhorrors führt. Schon der Filmtitel ist ein Wortspiel. Rymsza strukturiert seinen Film nicht nur nach den Stadien, die ein Moskito vom Ei über die Larve und Puppe bis zur Imago, also dem ausgewachsenen Insekt, durchläuft, sein Protagonist errichtet in seiner zum Insektarium umgestalteten Wohnung auch einen Mückenstaat, an deren Spitze er sich setzt.

So absurd die Handlung klingt, sie funktioniert ausgezeichnet, weil Rymsza und sein Co-Autor Mario Zermeno in ihrem Drehbuch genügend Lücken lassen und nicht in die gewohnten Handlungsmuster verfallen. Gleich zu Beginn tritt mit der schönen Lena del Alcázar (Charlotte Vega) eine Frau in Richards Leben, die in den meisten Filmen eine tragende Rolle gespielt hätte. Bei Rymsza und Zermeno taucht sie ab und erst am Ende wieder auf wie eine strahlende Erscheinung in einem in gedeckten Farben herbeigeträumten Fieberwahn, als den man diesen Film auch begreifen kann. 

Eric Koretz‘ Kamera, für die er bei den 77. Filmfestspielen von Venedig mit dem Bisato d’Oro ausgezeichnet wurde, erschafft hypnotische Bilder voller Spiegelungen. Rymszas Blick in die Vergangenheit denkt unsere Gegenwart und Zukunft immer mit. Im Fernsehen läuft der Vorwahlkampf der Demokraten zwischen Hillary Clinton und Barack Obama, einen Kanal weiter feuert Donald Trump in seiner eigenen TV-Show Auszubildende. Und auf der Tonspur erklingt irgendwann Der Leiermann aus Schuberts Winterreise. Die Finanzmärkte drehen und drehen sich, immer weiter dem Abgrund entgegen. Ihre Akteure halten sich für Matadore, die den kapitalistischen Stier in die Knie zwingen können, dabei sind sie nur unbedeutende Mückchen in einem riesigen Schwarm.

Mosquito State (2020)

Das ständige Surren eines Moskitos. Der Blutsauger brütet im höhlenartigen Penthouse des Datenanalysten Rich. Äußerlich ist der kein Master of the Universe, aber durch einen genialen Algorithmus basierend auf dem Verhalten von Bienen ist er reich geworden. Sagen wir mal so: Die Insekten liegen ihm im Blut. Die Stechmücken nähren sich an Rich, sorgen buchstäblich für bizarre Auswüchse in Gesicht und Körper: ein Spiegel dessen, was kurz darauf 2007 an der Börse passieren wird. Und wir wissen: Es war ein Blutbad.

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