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Ein ambitioniertes dokumentarisches Projekt zeigt Gedankenwelten und Träume von Kindern.

Meine Wunderkammern (2020)

Eine Filmkritik von Rochus Wolff

Nicht jedes Kind ist gleich.

Das ist eine so grundlegende wie schlichte Feststellung, man möchte meinen, es sei überflüssig, das auch nur aufzuschreiben. Aber das ist es offenbar nicht. Wenn man überlegt, wie besonders und herausragend wir uns alle fühlen, wie wenig der Norm entsprechend, ist es bemerkenswert, wie schlecht wir als Gesellschaft darin sind, Abweichungen zu tolerieren.

Stattdessen wird, wer von der gefühlten Norm abweicht, gerne an den Rand gedrängt. Und wird dann eigentlich nicht mehr gesehen. Susanne Kim hat solche Kinder gesucht, die lauter oder leiser sind als andere, langsamer oder schneller. Die eigene Geschichten mitbringen, vielleicht auch eigene Welten sich vorstellen und entwickeln. Und hat mit diesen Kindern gemeinsam überlegt, entwickelt, inszeniert: Einen Blick in ihre Welten. In ihr Inneres, in das Gefühlsleben.

Das ist der Kern, sogar das Herz des Projektes Meine Wunderkammern: Nicht nur einen Blick auf Augenhöhe zu wagen, sondern die Objekte dieses Blickes zu Subjekten zu machen, die mit entscheiden, wie der Blick ausgerichtet wird, was wie gezeigt wird.

Im Zentrum des Films stehen vier Kinder im Alter zwischen elf und vierzehn Jahren: Elias, Joline, Roya und Wisdom. Ihre Geschichten erzählen von Rassismus und Vorurteilen, von Ausgrenzung und „Leistungsschwäche“, aber all diese Worte haben eben den Nachteil, dass sie Phänomene beschreiben, aber keine Geschichten erzählen.

Und so begleitet Kim diese Kinder, die Kamera (Emma Rosa Simon) immer wortwörtlich auf Augenhöhe der Protagonist_innen. Erwachsene, Eltern und Lehrer_innen ebenso wie das Filmteam, kommen hier nur am Rande vor, vielleicht von hinten, angeschnitten, unscharf oder als Stimme aus dem Off.

Im Gespräch mit der Regisseurin erzählen die Kinder von ihren Erfahrungen, Vorlieben, auch von ihren Fantasien, ihren Interessen und Träumen. Die tauchen dann als klar markierte fiktionale Elemente auf: Als Animationen der Zeichnerin Franziska Junge, oder in Form der bunt leuchtenden, kindgroßen „Sprachbox“ Rose, die Elias begleitet, der von Sprachassistenten wie Alexa und Siri so fasziniert ist.

So öffnet sich der Blick in die „Wunderkammern“, eine moderne Variation auf die Sammlungen besonderer und seltsamer Objekte, die vor allem von Adeligen vom 15. bis 18. Jahrhundert angelegt wurden.

Als zusätzliche fiktionale Ebene ist die Suche eines Mädchens, Dorothea, nach den anderen vier Kindern eingezogen – sie befragt Menschen hier und dort nach einzelnen Phänomenen (Meerschweinchen, die sich in einem Moment blauen Lichts scheinbar in Luft auflösen…) und trifft sogar Angela Merkel (bzw. eine Imitatorin).

In einem mehrtägigen Treffen hat das Filmteam die vier Kinder (und noch viele andere) dann an einem realen Ort als „Planeten der verschwundenen Kinder“ zusammengebracht, wo sie sich kennenlernen und austauschen konnten – und wo schließlich einige der ergreifendsten Szenen des Films entstanden sind, ein gemeinsamer Umzug, karnevalesk in Masken und alle Unterschiede nicht nivellieren, sondern feiernd, dazu Gesang und Lieder, die Kinder selbst entwickelt und gesungen haben.

Es sind große Themen für kleine Menschen, von Meerschweinchen bis Mobbing. Aber man tut gut daran, Kinder in diesem Alter nicht zu unterschätzen: Sie haben schon einen recht klaren Blick auf ihre eigene Welt, auf Zusammenhänge, Lügen, Vortäuschungen.

Meine Wunderkammern ist kein Dokumentarfilm im klassischen Sinne, sondern letztlich eine so konsequente wie stringente Auseinandersetzung mit der dokumentarischen Form. Susanne Kim hinterfragt, ob es überhaupt möglich sein kann, sich rein beobachtend der Gefühls- und Gedankenwelt dieser Kinder zu nähern – und antwortet mit einem klaren „Nein, aber“.

Deshalb strebt sie an, die perspektivische Verzerrung durch die beobachtenden „Erwachsenen“ so gering wie möglich zu halten, indem sie die Protagonist_innen von Anfang an in Entstehung und Umsetzung einbindet, sie ihre Ansichten, Bilder, Gedanken und Geschichten nicht nur selbst formulieren lässt, sondern auch mitbestimmen, wie sie dann im Film zu sehen sind. Oder im Virtual-Reality-Projekt, das daraus entstanden ist und Kindern einen noch tieferen Einblick in die „Wunderkammern“ der vier Protagonist_innen geben will.

Und zugleich kommt Kim, das liegt in der Natur dieser Medien als kollaborative Artefakte, aus der grundlegenden Falle nicht ganz heraus: Es gibt keinen unmittelbaren, unvermittelten Zugang, keine Repräsentation ohne Verschiebungen und Verfälschungen. Es gibt nur die Möglichkeit, die Künstlichkeit der Situation zu thematisieren und zu präsentieren – und damit jenen Situationen besondere Strahlkraft verleiht, in denen unmittelbare Emotionen leuchten: Etwa Wisdoms Begeisterung, als er Fische in einem Gewässer entdeckt. Welches Glück da in seinen Augen zu sehen ist!

Meine Wunderkammern (2020)

Vier Kinder zwischen 11 und 14 Jahren nehmen uns mit auf die Reise in ihre geheime Welt. Dort gibt es kein Mobbing, keinen Rassismus und kein Geld. Dafür jede Menge zu entdecken: Löwenzungenkämpfe, Erfahrungen einer Flucht, Katzenmenschen und blauglänzende Krabbelkäfer. Wisdom, ein Junge mit kamerunischem Erbe, Joline, das Mädchen, das niemals erwachsen werden will, Elias, der auf seinem eigenen Planeten lebt und Roya, die vor fünf Jahren aus dem Iran nach Deutschland gekommen ist, reisen an einen fantastischen Ort, an dem sie unbeschwert sie selbst sein dürfen.

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