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Regisseur Ari Folman lässt in seinem Animationsfilm über das Schicksal von Anne Frank zwar die grausamsten Momente weg, findet aber dennoch klare Bilder für den Holocaust. Und zeigt Parallelen zu aktuellen Ereignissen auf.

Wo ist Anne Frank (2021)

Eine Filmkritik von Markus Fiedler

Auf den Spuren der Vernichtung

Mit seinem ersten Film seit acht Jahren greift der israelische Regisseur und Drehbuchautor Ari Folman („Waltz with Bashir“) das Schicksal der Jüdin Anne Frank auf, die mit 15 Jahren im Februar 1945, rund zwei Monate vor der Befreiung des Lagers, im KZ Bergen-Belsen den Tod fand. Und vorher mit ihren Tagebüchern aus der Zeit von 1942 bis 1944 eines der wichtigsten Zeitdokumente des Nazi-Terrors verfasste. In Texten an ihre fiktive Freundin Kitty hielt die junge Frau, die sich mit Eltern und Schwester zwei Jahre lang in einem Hinterhaus in Amsterdam vor den Nazis versteckte, ihre Gedanken, Eindrücke und Gefühle fest und schuf so ein schriftliches Mahnmal an die Welt, das ihr Vater, einziger Überlebender des Holocaust, später veröffentlichte. Und den Namen Anne Frank zum Synonym der Opfer der nationalsozialistischen Vernichtungsmaschine machte.

Ari Folman nähert sich der Person Anne Frank in seinem Animationsfilm zwar mit Würde, aber nicht als verklärte Erzählung von früher. In seinem Ansatz wird Kitty, die imaginäre Freundin von Anne Frank, in der Jetztzeit zu einer Art lebendigem Geist und macht sich auf die Suche nach ihrer Freundin. Schnell ist sie verwundert von den Menschenmengen, die in der Wohnung – nun ein Museum – unterwegs sind, und von der Verehrung, die die Niederländer:innen Anne Frank entgegenbringen, die sogar Plätze und Gebäude nach ihr benannt haben. Als sie bei ihren Nachforschungen den Migrantenjungen Peter kennenlernt, entdeckt Kitty schnell, dass es auch im 21. Jahrhundert noch unfassbares menschliches Leid gibt.

Mit diesem Vergleich zwischen der Nazizeit und der Situation der Millionen von Geflüchteten in der Welt geht Folman durchaus ein Risiko ein. Hätte ein nichtjüdischer Künstler die unsagbaren Gräueltaten der Nazis in Relation zu den heutigen Problemen von Migranten gesetzt, die vor Leid und Tod fliehen, es hätte wohl einen Aufschrei der Entrüstung gegeben. Folman hat etwas mehr Spielraum, und den nutzt er für eine kluge und emotional packende Darstellung des heutigen Elends durch Krieg und Vertreibung, die den Holocaust nicht herabsetzt oder relativiert. In Folmans Film können beide Ereignisse, die nicht miteinander zu vergleichen sind und doch eine Verbindung zueinander aufweisen, tatsächlich problemlos nebeneinander existieren.

Denn die Geschichte bleibt im Kern bei Kitty, die so lange auf der Suche nach ihrer Schöpferin ist, bis sie endlich die ganze Wahrheit über Anne Franks Schicksal herausgefunden hat. Folman erzählt seinen Film in einfachen, klaren Linien und setzt hin und wieder auch spielerische und helle Akzente — wohl, weil sich Wo ist Anne Frank? eindeutig auch an ein junges Publikum richtet. Trotzdem ist Folman stets darauf bedacht, keines der furchtbaren Erlebnisse zu verharmlosen oder zu verschweigen. Natürlich zeigt der Film keine Szenen des langsamen Sterbens an Krankheiten, die sich im Lager ausbreiteten. Auch auf andere Schreckensbilder aus den KZs verzichtet Folman. Die Gedenkstätte, die Kitty und Peter schließlich finden und die vom Tod der Anne Frank erzählt, reicht völlig aus. Sollte ein junges Publikum vor dem Film tatsächlich noch nicht von Anne Frank gehört haben, dürfte es von der Endgültigkeit dieses Fundes geschockt sein. Zuvor lässt Folman Kitty noch immer wieder Hoffnung versprühen, dass Anne noch irgendwo zu finden sei. Aber auch ältere Zuschauer:innen, die Anne Franks Geschichte kennen dürften, bekommen ohne rührselige Verpackung noch einmal den Vernichtungsapparat vorgeführt, der mehr als sechs Millionen Menschen das Leben kostete.

Folman stellt in seinem Film Anne Franks Leben stärker in den Vordergrund als ihren Tod, lässt Kitty über die damalige Zeit sinnieren und feiert Anne Franks Willen zum Leben und Überleben. Und bringt durch die Suche der literarischen Erfindung nach ihrem Schöpfer auch eine philosophische Note unter, wenngleich darauf nicht der Fokus liegt. Denn Wo ist Anne Frank? soll vor allem Kindern das dunkle Thema näherbringen, auch auf aktuelle Probleme in der Welt hinweisen und schlussendlich sogar noch Hoffnung machen. Folman gelingt das auf beeindruckende Weise, selbst wenn ihm manchmal die letzte Schärfe fehlt. Und weil Wo ist Anne Frank? vermutlich ein Film ist, den sich in den kommenden Jahren so manche Schulklasse ansehen wird, lässt sich sagen: Sie könnten es deutlich schlechter treffen.

Wo ist Anne Frank (2021)

Ari Folman folgt in seinem Film Kitty, jener imaginären Freundin, der Anne Frank ihr Tagebuch gewidmet hat. Er zeigt sie als Teeanger in der heutigen Zeit, die in der Nachbarschaft von Anne Franks Haus in Amsterdam aufwächst und die sich auf den Weg macht, um Anne zu suchen, da sie davon überzeugt ist, dass diese noch lebt. 

 

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