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Ein Filmemacher soll vor einem Publikumsgespräch in einem israelischen Dorf einwilligen, sich auf Themen zu beschränken, die das Kulturministerium abgesegnet hat. Seine angestaute Wut auf die Politik des Landes bricht sich Bahn. Das Drama von Nadav Lapid bekam in Cannes 2021 den Preis der Jury. 

Aheds Knie (2021)

Eine Filmkritik von Bianka Piringer

Wutausbruch in der Wüste

Es hätte ein erholsamer Ausflug in die Wüste werden können. Ein israelischer Regisseur (Avshalom Pollak), der im Film schlicht X. — oder Y in der Originalversion — genannt wird, ist einer Einladung in das entlegene Siedlerdorf Sapir gefolgt. Gegen Bezahlung soll er in der Bibliothek einen seiner Filme vorstellen und die Fragen der Gäste beantworten. Aber X. bekommt von der freundlichen Gastgeberin Yahalom (Nur Fibak) gesagt, dass er vorab auf einem Formular die Themen ankreuzen muss, um die es gehen wird. Etwas anderes dürfe dann nicht zur Sprache kommen. Mit der Aussicht auf Entspannung ist es nun für X. vorbei, und so schmiedet er einen Plan.

Schon am Anfang dieses Spielfilms führt der israelische Regisseur und Drehbuchautor Nadav Lapid (Synonymes) den Filmemacher X. als Mann ein, der der Politik in seinem Land kritisch gegenübersteht: In der Großstadt hat er ein Casting für sein neues Projekt veranstaltet, das von der wahren Geschichte der Palästinenserin Ahed Tamimi inspiriert ist. Die 16-Jährige ohrfeigte 2018 einen der israelischen Soldaten, die das Haus ihrer Familie im Westjordanland stürmen wollten. Sie kam für mehrere Monate ins Gefängnis. Ein israelischer Abgeordneter der Knesset twitterte, man solle ihr eine Kugel in die Kniescheibe schießen. 

Während X. in der Einsamkeit der Wüste Arava auf die abendliche Vorstellung wartet, bricht der Kontakt zu seinem geschäftigen großstädtischen Umfeld nicht ganz ab. Er hört die Nachricht einer Produzentin ab, die findet, mit dem Film über die Frau aus den besetzten Gebieten könne es schwierig werden. X. geht auch hinaus in die Landschaft aus Sand und Geröll, nimmt eine Videobotschaft für seine krebskranke Mutter auf. Und er telefoniert mit einer Journalistin, der er von dem Formular erzählt. Die Journalistin ermutigt ihn, Yahalom in ihrer Eigenschaft als stellvertretende Leiterin der Abteilung Bibliotheken im Kulturministerium dazu zu bringen, die staatliche Kontrolle und Zensur ihm gegenüber zuzugeben. Die heimliche Aufnahme ihres Eingeständnisses könne dann veröffentlicht werden. 

X. ist in diesem Drama praktisch das Alter Ego Nadav Lapids. Die Ereignisse im Film sind aus seinem Leben gegriffen. Seine Mutter, die auch die Editorin seiner Filme war, starb 2018, im selben Jahr besuchte er das Wüstendorf und unterschrieb das vorgelegte Formular. Sein Filmcharakter X. allerdings packt den Versuch an, von dem Lapid selbst aus ethischen Gründen Abstand genommen hatte: die junge Vertreterin des Kulturministeriums mit einer List bloßzustellen.

Lapid hat das Verhältnis vieler israelischer Filmemacher*innen zu ihrem Land als „Hassliebe“ bezeichnet. Die politischen Bestrebungen, die Meinungsfreiheit einzuschränken und regierungskritischer Kunst den Geldhahn abzudrehen, die Behandlung der Palästinenser, der Nationalismus und die Feindbilder, die im Unterricht und im Militärdienst vermittelt werden, liegen X. schwer im Magen. Die Wut, die sich in ihm aufgestaut hat, macht seinen Charakter abweisend und unsympathisch. So werden auch die fröhlich-zugewandte Yahalom und der Fahrer (Yoram Honig), der ihn abholt, Zielscheiben seiner zynischer Bemerkungen.

Dem fiktiven Filmemacher hilft es auch nicht, Popsongs zu hören und ein wenig in der Wüste zu tanzen. Oder in Gedanken die ruhige Szenerie in experimentelle Videokunst zu verwandeln. Wenn die Kamera unvermittelt nach rechts und links schwenkt, nach oben und unten, als würde sie keinen Halt finden, könnte man meinen, X. spiele gerade stilistische Mittel für ein neues Werk durch. Lapid lässt auch die Charaktere manchmal wie auf einer Bühne agieren, Gefühle und Gedanken unmittelbar in Gesten und Posen ausdrücken, die den Rahmen des alltäglichen Verhaltens sprengen. So wird dem Publikum das subjektive Erleben von X. näher gebracht.

Form und Inhalt verschränken sich bei Lapid auf überzeugende Weise, um die Handlung auf einen grandiosen Höhepunkt zuzusteuern. Dann steigert sich X. in einem an Yahalom gerichteten Monolog in Rage und schleudert alle Wut, allen Abscheu über das, was seiner Ansicht nach im Lande schiefläuft, ungefiltert heraus. Dieser Redeschwall mutet rhythmisch an, überhöht und überanstrengt. Danach sackt X., an Yahalom geklammert, zusammen. Die Unterscheidung von gut und böse, Opfer und Täter, stark und schwach funktioniert nicht, jeder und jede ist in Mitleidenschaft gezogen von den Missständen. Indem Lapid das feststellt, betont er dennoch, dass X. Verantwortung für sich und sein Handeln trägt. Nichts trifft X. in diesem wuchtigen Drama so schwer als die Erkenntnis, dass er verlernt hat, freundlich und gut zu sein.

Aheds Knie (2021)

Ein renommierter israelischen Filmemacher reist zu der Vorführung seines neuen Films in ein abgelegenes Dorf.

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