Log Line

Ein alternder Pornodarsteller kehrt nach einigen Rückschlägen zurück in seine texanische Heimatstadt. Die erste Komödie von US-Regisseur Sean Baker zeigt die Absurdität von Armut und dem American Dream.

Red Rocket (2021)

Eine Filmkritik von Lucas Barwenczik

High vom Rauch brennender Flaggen

Wer hat Amerika so angemalt? So bunt und grell, in Pastellfarben, die immer wirken, als würden sie den Schmerz der Menschen gleichzeitig lindern und verspotten. Sean Baker war es nicht, er hat diese Orte und Farben nur gesucht und gefunden. Jetzt erzählt er mit ihnen, von den USA und von Armut. Von Menschen-Marginalien, eilig an die Ränder der großen Erzählungen gekritzelt und ebenso schnell wieder fortgewischt. Gefunden hat er jetzt auch Simon Rex, einen bislang mäßig erfolgreichen Schauspieler (u. a. „Scary Movie 3, 4 und 5“), Pornodarsteller und Rapper. Wobei er als Dirty Nasty immer wirkte, als würde er nur einen Rapper spielen. Ob er für MTV 2Pac interviewt oder in Keshas Video zu Tiktok herumalbert, er steht neben ihnen wie Forrest Gump neben Richard Nixon oder Elvis.

In Sean Bakers neuem Spielfilm Red Rocket wirkt er viel realer. Er verkörpert darin den ehemaligen Pornostar, Schauspieler und Rapper Mikey Saber. Ein Langstreckenbus trägt ihn von Los Angeles zurück nach Texas City und damit auch in das Drama hinein. Von der Tonspur plärrt NSYNCS Hit Bye Bye Bye, und der Beginn der ersten Strophe reißt ihn aus dem Schlaf. Aus falschen Träumen, denn er kehrt nach einem Höhenflug als Gescheiterter zurück.

An seinem Leib hat er nur noch ein Unterhemd, Jeans und ein paar blaue Flecken, in seiner Hosentasche sind 22 Dollar.
In Texas City lebt die Frau, mit der er auf dem Papier immer noch verheiratet ist: Lexi (Bree Elrod). Sie teilt sich eine Bruchbude mit ihrer Mutter und will eigentlich nichts mehr von Mikey wissen. Doch attraktiv ist er auch mit Mitte 40 noch und wenn es ihm nützt, kann er sehr charmant sein. Er zieht wieder ein und will sich ein neues Leben aufbauen, beginnt nach endlosen Absagen Drogen zu verkaufen und hilft ein wenig im Haushalt aus.

Es entsteht ein brüchiges Gleichgewicht, das hält, bis er in einem Donut-Laden die junge Strawberry (Suzanna Son) kennen lernt. In ihr sieht er eine neue Chance, große Erfolge zu feiern – Strawberry soll Pornostar werden.

Natürlich suggeriert Baker eine Verbindung zwischen seinen Objets trouvé. Mikey, der alternde Überlebenskünstler; Texas City, die verfallende Schwerindustriestadt. Auf anregende Weise kaputt, man schaut sich beide gerne an, zumindest mit dem Sicherheitsabstand des Kinos. Sie sind Artefakte einer vergangenen Zeit, über die man in feinen Kreisen ungern redet. Gemeinsam erzählen sie von der Obsoleszenz der Körper, die sich weigern, einfach so zu verschwinden, obwohl sie von den globalen Verwertungsketten nicht mehr benötigt werden.

In Städten wie dieser vermutet die Politik oft einen mythischen „echten“ Amerikaner, und in vielen Fantasien sieht er auch ein wenig aus wie Mikey. In einer Szene dreht er sich aus US-Flaggen-Papier einen Joint, während ein alter Fernsehapparat Donald Trump so orange färbt wie noch nie. „America is a nation of believers, dreamers and strivers that is being lead by a group of censors, critics and cynics.“, skandiert er, zu diesem Zeitpunkt noch Präsidentschaftskandidat. Und auf welcher Seite Mikey sich sieht, ist nicht schwer zu erraten.

Er träumt und strebt, er macht sich auf den Weg. Red Rocket ist in weiten Teilen ein Film über Logistik. Über die Tatsache, dass Geld den menschlichen Bewegungsradius erweitert und manche sich kaum die Busfahrt in die nächste Stadt leisten können, während Elon Musk und Jeff Bezos ins Weltall fliegen. Mikey erkämpft sich mühsam die eigene Mobilität. Er wirkt dabei wie die Hauptfigur eines Open-World-Videospiels, die nach und nach neue Fortbewegungsmittel freischaltet. Während er zu Beginn mit energischem Schritt an Raffinerien, rauchenden Schloten und Ruinen vorbeiläuft, schwingt er sich später aufs Fahrrad, lässt sich von alten Freunden im Auto mitnehmen und fährt schließlich im Truck umher.

Um aufzusteigen, benutzt er Menschen. Man hört aus jedem Halbsatz über seine Vergangenheit, dass er anderen selten Glück gebracht hat. Was immer ihnen zustößt, Mikey trägt natürlich keine Schuld. Er lügt ohne Hemmungen, und wo er sich zur Wahrheit genötigt sieht, wird sie Teil seiner großen Show. So zeigt es Baker in einer Montage: Potenziellen Arbeitgebern muss er im Vorstellungsgespräch irgendwann offenbaren, dass er mal Erotikdarsteller war, und er tut es immer mit dem gleichen Gestus, als würde er sie in ein großes Geheimnis einweihen.

Mikey denkt an sich, und alle Beziehungen dienen einem Zweck. Auch die zu Strawberry, die mit ihrem Spitznamen die Verwandlung in ein Pornosternchen schon halb abgeschlossen hat. Doch ihre Jugend, kaum zu leugnen, lässt ihn zweifeln. Ein Anflug von Moral? Sie ist nicht naiv, sondern präsentiert sich sehr abgeklärt, aber man merkt, dass hier zwei Schauspieler aufeinandertreffen, von einer irgendwie falschen Welt in irgendwie falsche Menschen verwandelt. Der Film nimmt sie ernst, so absurd sie sich manchmal verhalten mögen.

In The Florida Project war es die Nähe zu Disney World, die allem etwas Unwirkliches verlieh. Diesmal ist es die Fantasiewelt der Pornographie, die Mikey aus Los Angeles mitbringt, nur um erkennen zu müssen, dass sie längst überall ist. Sie nimmt echte Menschen und überführt sie in eine Sphäre des Begehrens, die mit der menschlichen Sexualität oft nur noch indirekt zu tun hat. Sie braucht die Körper wie die Industrie von Texas City, aber hat sie längst in schräge Träume verwandelt.

Das ist sicher das faszinierende an Sean Bakers Kino: dass es Wirklichkeit und Künstlichkeit nie als Gegensätze begreift. Wenn er das eine erzeugen will, entsteht immer auch das andere. In Red Rocket formt er mehr und weiter als je zuvor, der Film ist viel offener eine Komödie als Starlet oder Tangerine und auch deutlich ausgedachter. Er entwickelt sich als Künstler weiter, wird wohl auch zugänglicher. Studierte Lebenswirklichkeit kippt oft in Farce oder Slapstick, man amüsiert sich. Es macht immer so lange Spaß, mit Mikey unterwegs zu sein, bis es dann eben keinen mehr macht. Auch Leute wie er malen Amerika so an, bunt und grell. Donut-Läden in knalligen Gelb- und Rottönen, ein blauer Himmel wie eine Fototapete. Und Red Rocket ist ein Film über die Frage, ob uns Graustufen wirklich lieber wären.

Red Rocket (2021)

Mikey Saber ist ein heruntergekommener Pornostar, der in seine kleine texanische Heimatstadt zurückkehrt — dort allerdings freut sich nicht jeder über seine Rückkehr.

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