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Die Initiative „Der besondere Kinderfilm“, die seit 2013 eigenständige Geschichten fördert, gibt es immer noch. Diesmal nimmt sie uns mit auf eine Reise von Indien nach Deutschland und zurück. Ein Film, bei dem nicht nur die Wahl des Regisseurs überrascht.

Träume sind wie wilde Tiger (2021)

Eine Filmkritik von Falk Straub

Bollywood in Berlin

Das Erfolgsrezept für einen deutschen Kinderfilm lautet ungefähr so: Man nehme eine populäre Vorlage, hebe ein pittoreskes Gemäuer als Handlungsort unter und verrühre das Ganze mit mittelprächtigen Nachwuchsdarstellern und gestandenen Schauspielgrößen, die sich gern zur Ulknudel machen. Fertig ist die Familienunterhaltung, die von der Oma bis zum Enkel allen schmeckt. Je nachdem, wie lange die Vorlage bereits im Regal stand, kommen diese Adaptionen allerdings reichlich altbacken rüber. Dass es auch frischer geht, zeigt Regisseur Lars Montag in seinem ersten Kinderfilm.

Im Zentrum steht der jugendliche Ranji Ram (Shan Robitzky), der wie sein großes Vorbild Amir Roshan (Terence Lewis) ein Filmstar werden will. Gemeinsam mit seinem Großvater (Irshad Panjatan) tanzt Ranji durch Mumbais bunte Gassen und imaginiert sich zum Helden seines eigenen Films. Diese erste, toll choreografierte Einlage ist eine von vielen, die die Realitätsebene durchbrechen. Ranjis großer Durchbruch muss derweil noch auf sich warten lassen. Denn statt nach Bollywood geht es erst einmal nach Berlin.

Ranjis Vater Sunil (Murali Perumal) hat für die Träume seines Sohns keinen Sinn. Als Mathematiker rechnet er sich ein besseres Leben aus. Alle Zahlen für eine rosige Zukunft sprechen für Deutschland. Doch als Sunil, seine Frau Kalinda (Sushila Sara Mai) und Ranji in Berlin landen, ist der Alltag trist und grau. Überall Beton und Symmetrie – und lauter Quadratschädel in rechten Winkeln wie Hausverwalter Schröbler (Herbert Knaup) oder Ranjis Mitschüler und Klassentyrann Marvin (Claude Heinrich), in dessen Dunstkreis sich zunächst auch Ranjis Nachbarin Toni Nachtmann (Annlis Krischke) bewegt.

Zum Glück gibt es auch kreative Querdenker wie Tonis Mutter Jeanette (Anne Ratte-Polle), eine Krankenschwester mit Rockerblut, und ihr Vater Frank (Simon Schwarz), der in seinem überdimensionierten Keller die aberwitzigsten Musikinstrumente erfindet, damit allerdings keine müde Mark verdient. Und nach und nach bekommt auch Toni die Kurve, erkennt, was für ein Depp Marvin ist und hilft Ranji dabei, ein Bewerbungsvideo für Bollywood zu drehen.

Die Idee, einen Film über indisches Leben in Deutschland zu realisieren, bei dem die Inder endlich einmal keine Randfiguren oder Abziehbilder sind, sondern ganz im Gegenteil, die Deutschen mit ihrer verqueren Indienliebe gehörig ihr Fett wegbekommen, hatte Ellen Schmidt. Bei der Drehbuchentwicklung halfen dann Murmel Clausen (Bully-Parade, Der Schuh des Manitu u.a.) und Sathyan Ramesh (u. a. Türkisch für Anfänger) tatkräftig mit. Und auch Regisseur Lars Montag gab gehörig Input und sorgte dafür, dass dieser Film nicht nur eine ordentliche Geschichte erzählt, sondern auch hervorragend aussieht.

Filmschaffende mit einer wiedererkennbaren visuellen Handschrift kann man im deutschen Kino leider weiterhin an einer Hand abzählen. Lars Montag zählt dazu. Schon sein Kinodebüt Einsamkeit und Sex und Mitleid, das der 1971 geborene Regisseur nach Jahren der Fernseh(krimi)-Kost 2017 gab, ist von einem enormen Stilwillen geprägt, der sich zuvörderst in der Auswahl ausgefallener Sets und Locations niederschlägt. Montag hat erkannt, dass Film nicht nur Inhalt ist, sondern auch immer Form und Farbe, die die Realität gern überhöhen dürfen. Das ist auch in seinem ersten Kinderfilm so und für einen Film, der die völlig überhöhten Welten des Bollywood-Kinos auf Berlin überträgt, genau richtig.

Deshalb kommt Familie Ram nicht etwa in Tegel oder am BER an, die optisch nicht viel hergegeben hätten, sondern am Berliner Olympiastadion, das diesem Film als Flughafen dient. Und sie wohnen in einem Gebäude, das dem von Emil Fahrenkamp entworfenen Shell-Haus nachempfunden ist. Und in den Berliner Bussen tragen alle Passagiere Grau, was den Kontrast umso größer macht, wenn Ranji in einer darauffolgenden Tanzeinlage aus diesem grauen Alltag ausbricht. Und – last but not least – puzzelt Montag all das visuell ausgesprochen einfallsreich zusammen. Allein schon die Übergänge von einer Szene zur nächsten lohnen einen Kinobesuch.

So viel Kreativität ist im deutschen (Kinder-)Film selten, was denn auch über manche Schwäche hinwegtröstet. Die Konflikte und deren Lösungen wirken stets ein wenig aufgesetzt. Und in den Nebenrollen überzeugt nicht jeder Nachwuchsdarsteller. Hauptdarsteller Shan Robitzky, der die Rolle wie seine Figur übrigens über ein simples Bewerbungsvideo ergatterte, überzeugt dafür umso mehr. Er singt und tanzt, als gäbe es kein Morgen und spielt trotz allem ganz natürlich.

Entstanden ist der Film im Zuge der Initiative „Der besondere Kinderfilm“, die mit Winnetous Sohn (2015) und Ente gut! (2016) ihren Anfang nahm und zuletzt Madison (2021) in die Kinos brachte. Auch wenn keiner der bislang produzierten Filme vollends überzeugte, kann sich das Gesamtergebnis mehr als sehen lassen. Zu den üblichen 08/15-Adaptionen bietet ein Film wie Träume sind wie wilde Tiger eine mehr als willkommene Abwechslung. Denn das Kino ist nicht nur ein Ort für Vorlagen-Fans, sondern auch immer einer für Träumer.

Träume sind wie wilde Tiger (2021)

Ranji (12) ist neu in Berlin. Sein großer Traum: Bollywood. Ein Castingaufruf in Mumbai ist die Chance. Dafür muss Ranji allerdings einige Hürden meistern: Freunde finden, ein Video drehen, ohne seine Eltern nach Mumbai reisen und – nicht zuletzt – an sich selbst glauben. (Quelle: BKM)

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