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Sigmund Freud gehörte wie Karl Marx und Friedrich Nietzsche zu den Gründungsvätern modernen Denkens. Doch ist über ihn im 21. Jahrhundert nicht längst alles geschrieben worden? Keineswegs, wenn man David Tebouls feinsinnige biografische Annäherung sieht, die sich auf Freuds Briefwechsel stützt. 

Sigmund Freud - Freud über Freud (2020)

Eine Filmkritik von Simon Hauck

Jude ohne Gott 

Wien, 9. Bezirk, Berggasse 19. Das ist heute selbst schon ein mythenumrankter Ort in der österreichischen Hauptstadt, der nicht nur von Touristen wie Einheimischen regelmäßig heimgesucht wird. Sondern erst recht auch von allen, die sich gerade wieder einmal auf der Suche nach sich selbst, oder besser gesagt: ihrem „Über-Ich“ und/oder „Es“, befinden. Denn hier lebte und wirkte fast 50 Jahre lang einer der wirkungsmächtigsten Theoretiker des 20. Jahrhunderts: Sigismund Schlomo Freud (1856-1939). Ehe der manisch produktive und nichtgläubige Jude aus Furcht vor den braunen Machthabern in Nazideutschland ins Exil nach London fliehen musste, wo er kurz darauf längst weltberühmt verstarb. 

Der Vater der Psychoanalyse wie der Traumdeutung war zugleich der Tabubrecher des 20. Jahrhunderts schlechthin. Denn er beschäftigte sich in seinem gigantischen schriftlichen Oeuvre ohne gedankliche Scheuklappen en gros mit Metathemenblöcken, die von Religion und Philosophie über Gesellschaft und Hysterie, bis hin zu Krieg und Kultur oder Moral, Massenpsychologie und Melancholie reichten. Zudem hinterließ er ein überbordendes Konvolut an Schriften, Briefen, Korrespondenzen und privaten Notizen, die heute sowohl im Wiener Sigmund-Freud-Museum wie in London als Hort für Forscher*innen aus aller Welt aufbewahrt werden. 

In diesen abertausenden Seiten monologisierte, fabulierte und theoretisierte der berühmteste Seelendoktor der Welt über Jahrzehnte hinweg. Sie dienten dem französischen Dokumentarfilmer, Theatermacher und Künstler David Teboul als wichtigste Quelle für seine jederzeit faszinierende filmische Annäherung (Sigmund Freud – Freud über Freud) an diese monolithische Gestalt der vorletzten Jahrhundertwende. Dessen aufsehenerregendes Leben und Wirken diente bereits mehrfach als Vorlage für einer Reihe äußerst unterschiedlicher Spiel- und Dokumentarfilme wie Serien von John Houston (Freud/1962), über David Cronenberg (Eine dunkle Begierde/2011) bis hin zu Marvin Kren (Freud/2020). 

Der künstlerische Kniff in Tebouls Lesart ist seine Konzentration auf die Persona Freuds, der er sich in der Form eines Triptychons nähert: Denn um Geburt, Traum und Zusammenbruch kreist seine ebenso feinsinnige gestaltete wie assoziativ montierte (Schnitt: Caroline Detournay) Version des Freud’schen Lebens durchwegs. Dabei verzichtet der Regisseur glücklicherweise stilistisch sowohl auf gängige Experten-O-Töne, Reenactments oder das bloße Abfilmen historisch wichtiger Lebensstationen und Orte des wagemutigen Lebemanns, der früh heiratete, sechs Kinder zeugte und lebenslänglich von Selbstzweifeln als „ganz gottloser Jude“ (Sigmund Freud) angetrieben wurde. Anstatt sich wie zu erwarten auf die Genese der Psychoanalyse oder der Traumdeutung zu konzentrieren fokussiert Teboul vielmehr die zeithistorischen Hintergrundfolien vom Untergang Österreich-Ungarns, über die Traumata des Ersten Weltkriegs wie das gedankliche Gift des Nationalsozialismus mit all seinen todbringenden Konsequenzen nicht nur für einige Mitglieder der Freud’schen Familie. 

Zudem arbeitet Teboul wunderbar die wichtige Rolle seiner Tochter Anna, „der Hüterin des Tempels“, heraus, die eine Schlüsselposition vor allem im letzten Drittel seines Lebens einnahm und deren Gedanken und Zitate in Sigmund Freud – Freud über Freud von Birgit Minichmayr gesprochen werden. Auf der assoziativ angelegten Tonebene stechen vor allem die zahlreichen Ausschnitte aus Freuds umfangreicher Korrespondenz heraus, die diesem formal-ästhetisch kühn arrangierten Porträt einen magisch-realistischen Impetus verleihen, in dem Geschichten wie Erinnerungen extrem lebendig gemacht werden.  

In Kombination mit dem selbst gedrehten Super-8-Material des Regisseurs, das er wie klassisches Archivmaterial behandelt, und raren Filmaufnahmen der Freuds aus den 1930ern entsteht so ein klassisch Freud’scher Assoziationsreigen, der sich einerseits um geschichtliche Kontexte schert. Andererseits den Familienmenschen Freud höchstselbst auf vielseitige Weise inspiziert und in seiner gleichfalls filigranen wie seriösen Vorgehensweise bis zum Ende hin vollends fasziniert. Schließlich wird die darin vorgestellte „Welt von gestern“ (Stefan Zweig) wundersam feinfühlig ins Hier und Heute transferiert und von den Stimmen deutschsprachiger Theatergrößen wie André Jung mit Inbrunst zu neuem Leben erweckt.

Sigmund Freud - Freud über Freud (2020)

Im Wien der Jahrhundertwende entwickelt ein visionärer und bahnbrechender Sigmund Freud die Psychoanalyse, bis er 1938 ins Exil nach London gezwungen wird. Ein intimes Porträt, das – auch aus der Perspektive seiner Tochter Anna erzählt – auf Freuds Korrespondenzen und Texten basiert, und eine Befragung von „Heimat“ und „jüdischer Identität“. Bisher unveröffentlichte Archivbilder vergegenwärtigen Freud nicht nur als genialen Denker, sondern auch als Privatmenschen in all seinen unterschiedlichen Facetten.

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