Transit Havanna

Eine Filmkritik von Kirsten Kieninger

Kubas sexuelle Revolution

Ihr Vater kommt nicht wie versprochen zur öffentlichen Verteidigung ihrer Doktorarbeit. Er hat gerade wichtigeres zu tun: Kuba der Welt gegenüber öffnen. Mariela Castro ist die Tochter des kubanischen Staatspräsidenten Raúl Castro. Das Thema ihrer Dissertation ist die soziale Integration Transsexueller. Fidel Castros Nichte ist politische Mutter und Heldin der Herzen der kubanischen LGBT-Community. Das von ihr geleitete Nationale Zentrum für sexuelle Aufklärung (CENESEX) ermöglicht u.a. einmal im Jahr kostenlose geschlechtsangleichende Operationen. Malú, Odette und Juani hoffen, diesmal unter den Auserwählten zu sein. Sie sind die Protagonisten in Daniel Abmas sehenswertem Dokumentarfilm Transit Havanna.
Kuba ist schon lange ein fotogenes El Dorado für Filmemacher: Das Licht, die Farben, die Musik. Der marode Charme von Häusern, Oldtimern oder alten TV-Geräten noch aus der Sowjetunion. Viele Dokumentarfilmer haben hier ihre Protagonisten und Kulisse gefunden. Zur Jahrtausendwende gab es eine regelrechte Schwemme von Kuba-Dokumentarfilmen: von Wim Wenders Buena Vista Social Club bis Uli Gaulkes Havanna mi amor und Heirate mich!. Daniel Abma war nun 2014 und 2015 für Transit Havanna in Kuba unterwegs. Und ihm war das besondere Glück eines Dokumentarfilmers hold: er war zur richtigen Zeit am richtigen Ort.

Die Kulisse hat sich sichtlich verändert: weit weniger Oldtimer fahren heute durchs Bild. Aber eine pittoreske Kulisse war auch nicht das, was der junge Filmemacher suchte. Ihn hat die Tatsache interessiert, dass seit 2008 einmal im Jahr zwei Ärzte aus Holland und Belgien nach Havanna kommen und dort auf Initiative von Fidel Castros Nichte kostenlos geschlechtsangleichende Operationen durchführen. Er interessiert sich dafür, wie es Menschen geht, die sich an Wendepunkten ihres Lebens befinden. So wie Malú, Odette und Juani, die jede(r) für sich für ein Leben im richtigen Körper kämpfen und auf die Hilfe der eingeflogenen Ärzte hoffen. Und er interessiert sich dafür, wie – aus dem speziellen Blickwinkel der LGBT-Community gesehen – die gesamte kubanische Gesellschaft so tickt, mehr als ein halbes Jahrhundert nach der Revolution. Und als wäre dies alles nicht schon genug Stoff für einen sehr interessanten Dokumentarfilm, kommt dann auch noch der historische Moment der Öffnung Kubas dazu.

Insgesamt drei Monate Drehzeit verteilt auf vier Besuche hat Abma mit seinem Filmteam auf Kuba verbracht, Transit Havanna begleitet seine drei Protagonisten über den Zeitraum eines Jahres und bringt sie im Filmverlauf dem Zuschauer unaufdringlich näher: Malú ist Aktivistin und Wortführerin in der Transgender-Community, sie wartet schon seit Jahren auf ihre Chance zur geschlechtsangleichenden OP. Ihren ersten Auftritt hat sie als gutgelaunte Transe, die sich mit ihren zurechtgemachten Freundinnen im Taxi über das Hoden-Zurückbinden beim Strandbesuch austauscht. Gleich mit dieser ersten Szene packt der Film die Zuschauer bei ihren möglicherweise vorhandenen Klischee-Vorstellungen von Transgender und Transsexualität und liefert genau diese gutgeschminkte, schrille Oberfläche ab, um dann zu zeigen, dass der Alltag eben keine immerwährende bunte CSD-Parade ist – und dass „die Transsexuellen“ eine genauso heterogene Gruppe sind wie, sagen wir beispielsweise, „die Heterosexuellen“.

„Wir haben nichts gemeinsam“, sagt so auch die streng religiöse Odette, etwa Mitte vierzig, die einst bei der Armee der „beste Panzerfahrer Kubas“ gewesen ist. Sie arbeitet als Ziegenhirtin und lebt mit Mutter und Großmutter, die sie irgendwo zwischen den Geschlechtern sehen, sich weigern, sie „Odette“ zu nennen und gegen eine OP sind. Mit Odettes Geschichte schlägt der Film seinen dramatischsten, spannendsten Bogen und nimmt den Zuschauer auch emotional mit auf die Reise.

Der dritte Protagonist Juani ist der erste offen transsexuelle Kubaner (wie er auf Mariela Castros Dissertations-Konferenz stolz verkündet). Er hatte schon eine geschlechtsangleichende OP, nun hofft er darauf, dass in einer weiteren OP sein „Pancho richtig zum Leben erweckt wird“. Er lebt mit seinem Bruder zusammen. Das Geld ist knapp, Fleisch gibt es nur einmal im Monat. Wenn etwas später im Film Malú dann auf dem Malécon sagt, dass viele aus der Szene sich prostituieren, „damit mal Fleisch auf den Teller kommt“, dann ist klar, dass das kein Schnack ist, sondern dass es tatsächlich um die Existenz geht. Und wenn Juani nebenbei erzählt, dass es wegen des Embargos jahrelang kein Testosteron für seine Behandlung gab, dann eröffnet sich ein ganz anderer Blickwinkel auf die gesellschaftliche Realität Kubas, die man durch so viele andere Filme schon zu kennen glaubt.

Transit Havanna ist also nicht einfach ein weiterer Dokumentarfilm aus Kuba. Daniel Abmas Film liefert ein filigran gewebtes Bild der kubanischen Gesellschaft im Umbruch. Ein visuell ansprechender, sehenswerter Einblick in ein Land, in dem der Staat kostenlose geschlechtsangleichende Operationen anbietet, aber gleichgeschlechtliche Ehen nicht erlaubt sind. Wo es bei der CSD-Parade heißt: „Hoch lebe die Revolution. Hoch lebe Che Gevuara. Ohne soziale Revolution keine sexuelle Revolution“ und Mariela Castro „Nein zur Homophobie! Ja zum Sozialismus!“ skandiert, während im alten TV-Gerät bei Odette zuhause ihr Vater Raúl Castro eine „Normalisierung der Beziehungen zu den USA“ ankündigt.

Daniel Abma hat gemeinsam mit seiner Editorin Jana Dugnus aus der beobachtenden Begleitung der drei Protagonisten, aus einzelnen Szenen mit Mariela Castro und aus in Slow-Motion vorbeigleitenden Straßenszenen einen dramaturgisch feinen und runden Film geschaffen. Ein abendfüllender Dokumentarfilm voller Emotionen, Einblicke und Information. Ganz ohne Off-Kommentar, Texteinblendungen oder Talking Heads. Dafür mit kinotauglichen Bildern (Kamera: Johannes Praus) und erzählerischem Gespür. Etwas, was man bei einem Diplomfilm nicht unbedingt erwarten würde, worauf man aber nach Daniel Abmas Drittjahresfilm an der Filmuniversität Babelsberg hoffen durfte. Schon mit Nach Wriezen konnten Daniel Abma und sein Team (ebenso mit Jana Dugnus und Johannes Praus) überzeugen. Und auch hier haben sie drei Menschen an Wendepunkten ihres Lebens begleitet: Junge Straftäter aus Brandenburg in der Zeit nach ihrer Haftentlassung.

Transit Havanna

Ihr Vater kommt nicht wie versprochen zur öffentlichen Verteidigung ihrer Doktorarbeit. Er hat gerade wichtigeres zu tun: Kuba der Welt gegenüber öffnen. Mariela Castro ist die Tochter des kubanischen Staatspräsidenten Raúl Castro. Das Thema ihrer Dissertation ist die soziale Integration Transsexueller. Fidel Castros Nichte ist politische Mutter und Heldin der Herzen der kubanischen LGBT-Community.
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