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In dem kalifornischen Stadtviertel, in dem der Afroamerikaner Jahkor aufwächst, herrscht das Gesetz des Stärkeren. Sein Vater geht mit schlechtem Beispiel voran. Im Drama von Joe Robert Cole rekapituliert der erwachsene Sohn, wie er sich in einem eingespielten Kreislauf sozialer Ausgrenzung verfing.

All Day and a Night (2020)

Eine Filmkritik von Bianka Piringer

Eine schwarze männliche Biografie

Eigentlich war Jahkor Lincoln (Ashton Sanders) glücklich und stolz, Vater zu werden. So wie einst sein eigener Vater JD (Jeffrey Wright). Nun begegnen sich die beiden Männer beim Hofgang in einem kalifornischen Gefängnis. JD sitzt schon lange ein, jetzt hat auch Jahkor einen Mann erschossen. Er schämt sich, seinem neugeborenen Sohn kein Vorbild sein zu können, und beginnt, über sein Leben nachzudenken. Wie konnte es zu der verhängnisvollen Nacht kommen, in der er mit Wut im Bauch und zwei Pistolen in der Jacke in die Wohnung seines Opfers eindrang?

Der Titel dieses Dramas des Regisseurs und Drehbuchautors Joe Robert Cole gibt schon die Antwort: Es sind die alltäglichen Erfahrungen des Lebens in einem Schwarzenviertel von Oakland, Kalifornien, die sich summierten, bis Jahkors Bedürfnis nach einem seelischen Befreiungsschlag übermächtig wurde. Cole, der mit Ryan Coogler das Drehbuch zu Black Panther verfasste, will anhand von Jahkors Geschichte systematisch aufzeigen, wie der Kreislauf von sozialer Benachteiligung, Gewalt, Drogenkonsum und -handel afroamerikanische Neighborhoods über Generationen hinweg im Griff haben kann.

Das in eine schwermütig-düstere Stimmung gehüllte Crime-Drama bietet in der Rolle Jahkors ein Wiedersehen mit Ashton Sanders, der in Moonlight den Hauptcharakter Chiron im Teenageralter spielte. Erneut beeindruckt Sanders mit der Darstellung eines introvertierten jungen Menschen, der große emotionale Konflikte mit sich alleine ausmachen muss. Der sensible Jahkor träumt davon, als Rapper Karriere zu machen. Anders als sein Kumpel TQ (Isaiah John) hält er sich vom Drogenhandel kategorisch fern, was aber nicht heißt, dass er nicht ab und zu bei einem Raub mitmacht. Seiner schmächtigen Statur zum Trotz kann er heftig zuschlagen – in Rückblenden taucht der Film in die Kindheit Jahkors (Jalyn Emil Hall) ein und schildert, wie ihm sein Vater einbläute, sich auf der Straße und in der Schule nichts gefallen zu lassen.

Immer wieder kehrt Jahkor in seiner Selbsterforschung im Knast zu den Kindheitstagen vor 13 Jahren zurück und zum prägenden Verhältnis zu seinem Vater. Eine weitere Erzählebene schildert seinen Alltag in den Monaten vor dem Mord, den Jahkor begeht. Die drei Zeitebenen überlagert und verbindet Jahkors Off-Kommentar, der voller philosophischer, reichlich desillusionierter Gedanken über das ewige Gesetz des Scheiterns der Söhne in den Neighborhoods steckt. Das geht dann so: „Ganze Viertel wissen mehr über das Leben im Gefängnis als über das Leben draußen“. Oder: „Wir teilen die gleiche, sich immer wiederholende Geschichte.“

Sicher steckt in diesen Betrachtungen viel Wahrheit, auch wenn sie wenig Neues zutage fördern. Aber der fatalistische, bedeutungsschwer raunende Ton dieses Kommentars, der wohl atmosphärisch an die typischen Voice-Over-Erzählungen des Film noir anknüpfen will, wirkt auf Dauer etwas nervig und penetrant. Er verstärkt den Eindruck der Langatmigkeit, den das Drama vor allem dem Umstand verdankt, dass es zu wenig auf lebendige Figurenzeichnung achtet und auf auflockernde, humorvolle Momente verzichtet.

Cole gelingt es jedoch ganz gut, die fatale, prägende Nähe von Gut und Böse, von Freundschaft und Kriminalität in Jahkors Milieu aufzuzeigen. Revierkämpfe konkurrierender Drogengangs machen die Straßen unsicher, ein Menschenleben ist nicht viel wert. Das schildert der Film in einer besonders drastischen Szene, in der Jahkor mit TQ und mit seiner Freundin Shantaye (Shakira Ja‘nai Paye) abends einem Autorennen zuschauen wollen. Der Drogengangster Big Stunna (Yahya Abdul-Mateen II) kann kaltblütig und brutal sein, aber Jahkor gegenüber tritt er als Freund und Mentor auf. Auf dem Sofa in seinem Wohnzimmer fühlt sich Jahkor jedenfalls wohler als in seinem kurzen Job in einem Schuhladen mit weißer Kundschaft.

Die Welt der Weißen scheint meilenweit entfernt und ist doch auf diffuse, ausgrenzende Weise immer präsent im Leben Jahkors. Eine verständnislose Lehrerin, kränkende Äußerungen von Kunden im Laden, ein polizeiliches Verhör auf dem Revier, als Jahkor einmal eine Autofahrt in ein reiches, von Weißen bewohntes Viertel wagt. Sein guter Freund Lamark (Christopher Meyer) ging zum Militär, um den Sprung aus dem Viertel zu schaffen – und kehrt verletzt zurück. Jahkor kleidet sein Lebensgefühl in düstere Raps und legt Wert auf die Expertenmeinung des bekannten Rappers Thug‘ish Trex (James Earl). Aber diese unsympathische Egoist ist nicht nur Musiker, sondern auch Gangster.

Die moralisch integeren Leute im Viertel sind fast immer Frauen. Jahkors Mutter (Kelly Jenrette) will, dass ihr Sohn rechtschaffen ist und nicht von der Schule fliegt. Und Jahkors Freundin Shantaye hält zu ihm, auch als er im Knast landet. Selbst dass er ihre Frage, wen er erschossen hat, nicht beantworten will, nimmt sie ergeben hin. Diese klischeehafte Darstellung von Frauencharakteren wirkt altbacken und einfallslos.

Mit Barry Jenkins‘ Moonlight jedenfalls kann dieses Drama nicht konkurrieren. Das wirkte nicht nur wegen des Themas Homosexualität so innovativ. Es vermochte auch, sich vom einengenden Blick auf Delinquenz zu lösen und ihn für die ganze Bandbreite der Gefühle eines Heranwachsenden zu weiten. Cole hat zwar tendenziell Ähnliches im Sinn, wenn er die Tragik eines Menschen zeigt, der trotz guter Ziele systemisch benachteiligt in eine Sackgasse gerät. Aber er schafft es nur bedingt, mit diesem an sich kernigen und ernsthaften filmischen Lamento zu berühren.

All Day and a Night (2020)

Während seiner lebenslangen Gefängnisstrafe blickt ein junger Mann auf all die Menschen, die Umstände und das System zurück, die ihn einst zum Verbrecher werden ließen.

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