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Deborah Feldman floh mit Anfang 20 aus ihrer ultraorthodoxen jüdischen Gemeinde und schrieb ihre Erfahrungen in der Autobiografie „Unorthodox“ nieder. Nun wurde das Buch für Netflix als Serie umgesetzt. Und, so viel sei gesagt, die Fiktionalisierung ist mehr als gelungen.

Unorthodox (Miniserie, 2020)

Eine Filmkritik von Christian Neffe

Die schweren Flügel zur Freiheit

Der Wendepunkt kommt direkt zu Beginn. Eine junge Frau steht am Fenster, blickt in die tristen Straßenschluchten von Williamsburg, New York, und nimmt einen letzten Schluck aus ihrem Glas. Dann setzt sich etwas in ihr in Bewegung. Sie packt nur das Nötigste zusammen, versteckt ein Bündel Geldscheine im Bund ihres Rockes. Dann die Treppe hinunter, vorbei an den Menschen, die sich an diesem Sabbat im Foyer tummeln, und hinaus aus der Tür. Wenig später sitzt die Flüchtende in einem Flugzeug nach Berlin. Auf dem Weg in ein neues Leben. 

Dieser zentrale Einschnitt im Leben der 19-jährigen Esther (Shira Haas) spielte sich – zumindest so ähnlich – auch bei Deborah Feldman ab. Die heute in Berlin ansässige Autorin wuchs in der ultraorthodoxen jüdischen Satmarer-Gemeinde in Williamsburg unter restriktivsten religiösen Regeln auf. Jiddisch ist dort die Muttersprache, vergnügliche Aktivitäten sind in der Regel verboten, Ehen werden arrangiert und für Frauen gelten strikte Regeln hinsichtlich Kleidung, Verhalten und Rolle in der Familie. Feldman wurde mit 17 Jahren verheiratet, verließ einige Jahre später die Gemeinde und schrieb 2012 ihre Lebensgeschichte im Buch Unorthodox nieder. Unter der Regie von Maria Schrader (Vor der Morgenröte) ist nun eine gleichnamige Miniserie für Netflix entstanden, die auf Feldmans Autobiografie basiert.

Zumindest in jenem Teil der Erzählung, der die Entwicklung der Protagonistin bis zu ihrer Flucht nachzeichnet. Esthers Vermählung, ihre Hochzeit, ihr Eheleben – all das speist sich aus den Erfahrungen, die auch Feldman machte. Die andere Hälfte des Plots, die sich in Berlin abspielt, ist weitestgehend frei erfunden. Dort freundet sich Esther mit einer international zusammengewürfelten Gruppe von Musikstudent*innen an und will die Chance auf eine neue Existenz ergreifen, indem sie sich für ein Stipendium am Konservatorium bewirbt. Derweil reisen ihr Ehemann Yakov (Amit Rahav) und dessen Cousin Moishe (Jeff Wilbusch) nach Berlin, um Esther zurückzuholen. Oder wenigstens das Kind, das sie unter dem Herzen trägt. Und dann ist da auch noch Esthers Mutter (Alex Reid), die vor 15 Jahren ebenfalls der Satmarer-Gemeinde entfloh und nun mit ihrer Lebensgefährtin in der deutschen Metropole lebt.

Während dieser Teil von Unorthodox vom Finden einer neuen Identität erzählt, beschäftigen sich die parallel eingewobenen Rückblicke mit dem Verlust eben jener. Die anfangs glückliche Ehefrau leidet schnell unter dem Druck, der von Familie und Gemeinde ausgeht. Denn pünktlich neun Monate nach der Hochzeitsnacht soll bereits ein Kind das Licht der Welt erblicken. Und ihm sollen unzählige weitere folgen. In Ermangelung echten Aufklärungsunterrichts und eines positiven Körperbewusstseins, münden die allabendlichen Zeugungsversuche in unerträglichen Schmerzen und enden, bevor sie begonnen haben. Leidenschaft, Lust – das sind in dieser Gemeinde verbotene oder zumindest verpönte Konzepte. Bei Esther setzt ein schleichender Prozess ein: Sie fühlt sich zunehmend unwohler, wie ein Objekt, das nur im Dienste der Gemeinde steht, und will schließlich weg, auf in ein selbstbestimmtes Leben. Und dabei im besten Fall – auch das ist Frauen bei den Satmarern untersagt – Musik machen. „Gott hat zu viel von mir erwartet“, sagt sie sie einmal in all ihrer unverändert großen Bescheidenheit.

Unorthodox entstand im Wesentlichen in Berlin, auch Teile der Szenen in New York wurden dort gedreht. Man merkt es der Serie nicht an. Das Kulissen- und Kostümdesign fällt – nicht zuletzt dank der Zusammenarbeit mit Teilen der Satmarer-Gemeinde – überaus detailverliebt und authentisch aus. Dass der überwiegende Teil der Dialoge auf Jiddisch geführt wird, trägt sein Übriges dazu bei. Die Szenen vor Esthers Flucht sind dabei eindeutig die stärkeren, allein schon deshalb, weil sie Einblick in einen religiösen Mikrokosmos gewähren, der sich quasi allen Selbstverständlichkeiten der Moderne widersetzt. Unorthodox porträtiert diese Gemeinde allerdings mit viel Respekt, schlüsselt die Gründe des Dogmatismus auf – klagt an, ohne zu verurteilen. Esther ist nicht die einzige, die darunter leidet: Auch ihr Ehemann, das ist immer wieder zu spüren, kann den an ihn gestellten Erwartungen, ein „echter“ Mann zu sein, nicht gerecht werden.

Esthers Erlebnisse in Berlin wandeln zwar weitestgehend auf bewährten Coming-of-Age-Pfaden. Dieser Fish-outta-Water-Plot hat inhaltlich jedoch einen deutlich universelleren Anstrich als die Rückblicke. Die Religion spielt hier nur eine Nebenrolle, im Vordergrund steht stattdessen die Geschichte einer jungen Frau, die sich schlicht ein eigenes Leben aufbauen will. Zugleich hat dieser Teil von Unorthodox die eindrücklichsten Augenblicke der Serie zu bieten. Etwa die Szene, in der Esther am Tag ihrer Ankunft am Rand des Wannsees steht, mitsamt ihrer Kleidung ins Wasser steigt, zaghaft, in die untergehende Sonne blickend — und endlich die Perücke abstreift, mit der sie die Kurzhaarfrisur verdeckt, die ihr zur Hochzeit geschoren wurde. Es ist ein Akt der absoluten Befreiung, in dem Esther erstmals ihre Flügel ausbreitet. Nur um wenig später zu erkennen, dass es sehr viel mehr Kraft braucht, um diese Flügel auch zum Schwingen zu bringen. Shira Haas (Shtisel, Die Frau des Zoodirektors), die hier überwiegend zurückhaltend spielt, in den entscheidenden Momenten aber emotional geradezu explodiert, beweist sich spätestens mit dieser Rolle als Ausnahmetalent.

Bereits in der episodischen Dokumentation #Female Pleasure (2018) brachte Deborah Feldman ihre Geschichte – neben der von vier anderen Frauen aus vier anderen Kulturen – auf die Leinwand. Nun konnte sie sie also auch in fiktionalisierter Form umsetzen (Feldman war am Drehbuch beteiligt) und beschert ihrem Anliegen damit – so ist zu hoffen – noch mehr von der dringend benötigten Aufmerksamkeit. An der Qualität der Serie scheitert dieses Vorhaben jedenfalls nicht.

Unorthodox (Miniserie, 2020)

Eine junge Frau aus Brooklyn lässt sich auf der Flucht vor einer arrangierten Ehe in Berlin nieder. Doch irgendwann holt die Vergangenheit jeden ein.

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Meinungen

Gabriel · 04.01.2023

Diese Serie ist langweilig und bedient sich Antisemitischer Klischees .

Angela Kalus · 06.02.2021

Dem Thema hat sich John Turturro mit seinem Film "Plötzlich Gigolo" und einer in diesem Film umwerfenden Vanessa Paradis als Hauptdarstellerin überzeugender genähert- und auch unterhaltsamer. Ich habe mich bei Unorthodox meist gelangweilt.