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Gabrielle Bradys atemberaubendes Debüt dringt tief in die dunkle Geschichte und Gegenwart der von Australien verwalteten Weihnachtsinsel ein und findet formal-ästhetisch neue Mittel um die menschenverachtenden Zustände auf der Insel darzustellen.

Die Insel der hungrigen Geister (2018)

Eine Filmkritik von Simon Hauck

Wenn die Krabben ziehen

Romantisch, gar sinnlich-betörend klingt nur ihr Name. In Wirklichkeit ist die zu Australien gehörende Weihnachtsinsel, 350 km südlich von Java gelegen, inzwischen ein menschenverachtender Ort mit höchst wechselhafter Geschichte. Im Falle von Gabrielle Bradys erstklassigem Dokumentarfilmessay „Die Insel der hungrigen Geister“ ist sie keineswegs das erhoffte Eldorado, mit dem Menschenschlepper Asylsuchende aus Asien, Afrika oder dem Nahen Osten für ihre schmutzigen Geschäfte ködern wollen, sondern ein quasi rechtsfreier Raum, in dem Geflüchtete mithilfe oberster staatlicher Unterstützung und trotz internationaler Proteste diverser Menschenrechtsorganisationen immer wieder weggesperrt werden.

Im Gros der Fälle sogar auf unbestimmte Zeit, was schlichtweg unfassbar ist und sowohl Bradys aufrichtige Protagonistin Phi Lin Lee, die als Traumatherapeutin arbeitet, wie auch den Zuschauer in eine regelrechte Stockstarre versetzt und nach aufwühlenden eineinhalb Stunden eine große innere Wut generiert. Denn bösartig-fatale Geschichte spiegelt und wiederholt sich auf dieser gegenwärtig furchtbar herzlosen Weihnachtsinsel in geradezu erschreckender Weise von Neuem, was in Bradys berauschend fotografiertem (Kamera: Michael Latham) und bestechend montiertem (Editorin: Katharina Fiedler) Filmpoem durchwegs glänzend in Szene gesetzt und wie in einer Art Möbiusschleife packend, aber äußerst behutsam erzählt wird.

Jene Weihnachtsinsel ist per se ein Ort voller böser Geister. Seit ihrer verhältnismäßig späten Entdeckung durch Captain William Mynors im Jahr 1643 ist sie auch Jahrhunderte danach keineswegs ein Paradies, sondern in erster Linie ein Transitraum in verschiedensten Varianten. Zum einen für die berühmten, gut 40 Millionen roten Weihnachtsinsel-Krabben, die jedes Jahr aus beinahe undurchdringlichen Urwaldlandschaften gen Küste ziehen und für die selbstverständlich ganze Straßenzüge abgesperrt werden, damit nur ja keinem einzigen dieser Schalentiere etwas zustößt.

Zum anderen für vielfach traumatisierte Menschen aus unterschiedlichen Krisenregionen dieser Welt, die seit der Jahrtausendwende und trotz Australiens berüchtigter „no tolerance policy“ gegenüber Flüchtlingen versuchen, auf der Weihnachtsinsel irgendwie ihr Glück zu finden, was in Wirklichkeit aber Inhaftierung, Schikane und Drangsalierung durch die Behörden bedeutet, was Gabrielle Brady in sehr intimen, kaum auszuhaltenden Traumatherapiesitzungsszenen („Folgen Sie ihrem Gefühl“) zeigt, die einem regelrecht Magenschmerzen bereiten angesichts des geschilderten Horrors auf hoher See genauso wie in den absolut unzumutbaren Zuständen des Internierungslagers („Ich wollte mir auch die Augen zunähen“). Dabei ermuntert Phi Lin Lee ihre Patienten beispielsweise durch kurze szenische Spiele mit einer Kiste, etwas Sand und mehreren Plastikfiguren ihre schrecklichen Erlebnisse noch einmal nachzustellen. Denn vieles von dem, was sie ihr erzählen, lässt sich oft genug nicht mehr in Worte fassen: „Ich kann mich an keinen Tag in meinem Leben erinnern, an dem kein Krieg war“. Gleichzeitig so widerlich wie inhuman sind zusätzlich die Erfahrungen, die viele von ihnen in dem australischen Internierungslager gemacht haben.

Schmerzhafte Trennungen, eine unzureichende Gesundheitsversorgung und Unterbringung sowie ein deutlich gestiegenes Suizidrisiko und die permanente Metaangst des Nicht-mehr-weiter-Wissens-und-Ausgeliefertseins bestimmen vor Ort den trostlosen Alltag der ungeliebten Neuankömmlinge, auf deren Kosten alle australischen Premierminister der jüngeren Zeit bei den letzten Urnengängen obendrein ungehindert Wahlkampf machten.

Im krassen Gegensatz dazu steht die ästhetisch bezaubernde, millionenfache Form der Migration der roten Landkrabben, die im positiven Nebeneffekt für die Regierung zunehmend Touristen anzieht und öffentlichkeitswirksam gefördert wird, auch wenn es sich im Grunde „nur“ um Tiere handelt. Was zählt in diesem trügerischen Paradies dagegen schon ein Menschenleben? Skandalös wenig, wie sich es auf der Weihnachtsinsel das erste Mal bereits um1900 zeigte, nachdem auf der bis dahin unbewohnten Insel wenige Jahre zuvor riesige Phosphat-Vorkommen entdeckt worden waren, was zur sofortigen Annektierung durch das Britische Empire führte.

Für die lebensgefährliche Arbeit im Tagebau wurden damals 200 Landarbeiter aus China, Singapur und Malaysia angeheuert, von denen viele bereits bis zum Beginn der Ersten Weltkriegs an Vitamin B1-Mangel starben. Die Kolonialherren verweigerten ihnen im Anschluss sogar die Grabsteine. Deren Seelengeister schweben bis heute in der geheimnisumwitterten Dschungellandschaft dieser Insel umher, wofür Brady einen visuell teilweise delirierenden Stil gefunden hat, der an Abenteuer- und Voodoo-Filme erinnert und sich wie ihr gesamtes, aufsehenerregendes Langfilmdebüt auf subtile Weise außerordentlich tief in die Seele des Betrachters einbrennt. In der Summe ist Die Insel der hungrigen Geister ein ebenso konzentrierter wie raffinierter Hybridfilm, der den Finger tief in die Wunde legt und Australiens grausige „Flüchtlingspolitik“ mit formal-ästhetisch herausragenden Mitteln nicht nur im Subtext offen anprangert.

Die Insel der hungrigen Geister (2018)

Poh Lin lebt mit ihrer jungen Familie als Trauma-Therapeutin auf der abgelegenen Insel Christmas Island. Ihre Aufgabe ist die Betreuung von Asylsuchenden, die inmitten des undurchdringlichen Dschungels der Insel in einer Hochsicherheitsanstalt untergebracht sind. Die eigentliche Bevölkerung bilden 40 Millionen Landkrabben. Ausgelöst durch den Mondzyklus beginnen sie ihre fantastische Reise vom Inneren der Insel bis zu den schroffen Küsten.

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