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Als Jüdin aus Deutschland geflohen wird sie zur berühmtesten Sex-Therapeutin der USA. „Ask Dr. Ruth“ widmet der ungewöhnlichen Lebensgeschichte von Ruth Westheimer nun den ersten Dokumentarfilm.

Fragen Sie Dr. Ruth (2019)

Eine Filmkritik von Sophie Holzberger

Die faszinierende Lebensgeschichte einer jüdischen Emigrantin

Bekannt geworden in den 1980ern mit der Radiosendung „Sexually Speaking“ wurde Ruth Karola Westheimer zu einem Emblem der sexuellen Aufklärung in den USA und zu einer wichtigen Stimme der AIDS Krise. Ihr Spitzname „Grandma Freud“, ihr deutscher Akzent und ihre kleine Statur machten sie zu einem Phänomen der amerikanischen Pop-Kultur. Der Dokumentarfilm „Ask Dr. Ruth zeichnet nun unter der Regie von Ryan White das Leben einer beeindruckenden Frau nach.

Ruth Westheimer wurde unter dem Namen Karola Siegel in Frankfurt geboren, ihr Künstlername Dr. Ruth zeugt dabei von einer doppelten Verschiebung: er markiert den Beginn des Trends populärwissenschaftliche Akademiker:innen in der verkürzten Form des Titels und Vornamens zu benennen (ein nicht ganz ernst gemeintes Beispiel des Films zählt Dr. Dre als Beispiel auf). Er zeugt aber zugleich auch von ihrer Biographie als Jüdin in Deutschland. Gezwungen einen anderen Namen für ihren Pass auszusuchen, entscheidet sie sich für ihren zweiten Vornamen, in der Hoffnung, dass überlebende Familienmitglieder den Namen erkennen würden. Beide Eltern wurden nach Auschwitz deportiert und Ruth Westheimer gelangt 1939 im Alter von zehn Jahren in einem der Kindertransporte in ein Waisenheim in der Schweiz. Mit gerade einmal siebzehn Jahren wandert sie nach Israel aus und wird von der Hagana, einer paramilitärischen Untergrundorganisation, zur Scharfschützin ausgebildet. Durch ihre erste Ehe verschlägt es sie nach Paris, sie studiert an der Sorbonne und emigriert schließlich 1956 in die USA, wo sie für den Rest ihres Lebens bleiben wird.

Viele Sequenzen des Films sind in ihrer New Yorker Wohnung gedreht, von der sie stolz berichtet, dass sie seit über fünfzig Jahren dort wohnt. Nie, auch nicht nach ihrem lange anhaltenden Ruhm, wollte sie das jüdische Viertel, in der Nähe der Williamsburg Bridge verlassen. Die Kamera (David Paul Jacobson) erkundet die Wohnung vorsichtig, meistens sitzt Ruth Westheimer an ihrem Tisch und erzählt. Es sieht heimelig aus, die Einrichtung zeugt von ihrem bunten Leben: überall hängen Bilder, Fotografien und Notizen an der Wand, auf dem mit Spitzendeckchen bedeckten Tisch stehen bunte Kekse, Porzellanfiguren, Briefe und ständig betreten und verlassen Menschen die Wohnung, seien es Kinder, Enkelkinder, oder Freund:innen. Mit ihren über neunzig Jahren zeigt sich Ruth Westheimer als ungebrochen aktive und quirlige Person: sie unterrichtet zwei Kurse an der Columbia und Princeton Universität, ist regelmäßig in Talkshows zu Gast und schreibt weiterhin Bücher. Ihr Assistent erzählt erschöpft aussehend, dass er eigentlich auch gerne bald in Rente gehen würde, aber Dr. Ruth einfach nicht aufhören will zu arbeiten.

Sie trat früh für sexuelle Aufklärung ein, steht heute auf Seiten der Pro-Choice Bewegung und verteidigt queere Rechte. Einer ihrer eindringlichsten und liebsten Sätze ist: “There is no such thing as normal.“ Ihre Tochter und Enkeltochter sind beinahe empört darüber, dass sie sich selbst nicht als Feministin bezeichnet. Ihr ist der Klang zu sehr verbunden mit einer aktivistischen Idee, sie gehe eben nicht auf die Straße und Politik habe in ihrer Arbeit nichts zu suchen. Mit ihrer Tochter und Enkeltochter einigt sie sich über ihren Tee gebeugt schließlich auf die Bezeichnung „non radical feminist“ — es scheint eine entschiedene Untertreibung zu sein für eine Frau, die in einer Zeit der sexuellen Prüderie den Mut hatte explizit über weibliches Begehren und die sehr pragmatischen Belange des weiblichen Orgasmus zu sprechen. Es ist ein sehr enges Verständnis von Politik, das sie hier ablehnt, denn ihre Inhalte und öffentlichen Auftritte haben selbstverständlich eine politische Dimension. Der Film unterstreicht das mit einer alles anderen als subtilen Montage von einer Photographie, die sie und Obama freudestrahlend in die Kamera blickend zeigt, während sie über ihre Weigerung der politischen Positionierung in der Öffentlichkeit spricht.

Es ist die kraftvolle Präsenz dieser Frau vor der Kamera, die große Teile des Films trägt: die meiste Zeit spricht sie mit ihrer unverwechselbaren Stimme das Voice-over und führt durch ihre eigene Biographie. Ihre übersprudelnde Lebensfreude und Energie sind ansteckend und ich lache viel im Kino. Immer wieder bindet sie die Filmemacher ein, die den Rest des Filmes darauf bedacht sind, sie als unsichtbare Beobachter zu begleiten. Besonders gerne fordert sie sie auf, doch jetzt auch mal etwas zu essen: „Have a cookie! Do you really don’t want to have a cookie?“

In einer anderen Sequenz grinst sie schelmisch in die Kamera und beginnt dann, vor ihr davonzulaufen—über ihre Schulter ruft sie: “I want to show you that I can walk fast!“ Ständig ist sie in Bewegung: wir folgen ihr durch ihren New Yorker Freundeskreis und Begegnungen mit ihrer Familie nach Israel und in die Schweiz, wo sie das Publikum teilhaben lässt an der Erkundung ihrer Vergangenheit. Der Film montiert munter eine Mischung aus Interviews, beobachtenden Sequenzen und Fernseharchivmaterialien: man sieht sie in zahlreichen Talkshows, bei Ausflügen in ihrer New Yorker Nachbarschaft, in einer Schweizer Seilbahn, mit ihrer Familie beim Ski-Fahren (einem ihrer liebsten Hobbies) oder bei winterlichen Spaziergängen. Die einzig undokumentierte Phase ihres Lebens, ihre Kindheit und Jugend in der Schweiz und Paris erzählt der Film in Animationen, die stark an die Optik von Waltz with Bashir erinnern, besonders die Sequenzen über ihre Zeit als Scharfschützin in Israel.

Während sie ihren ersten boyfriend Walter in New York besucht und beide sich gemeinsam erinnern und singen, schneidet der Film immer wieder in die Animationen und illustriert die Erzählungen — es bleibt fragwürdig, wozu es diese Animationen braucht. Ihr eigenes Voice-over und die Begegnungen mit anderen Zeitzeug:innen sind für sich genommen schon so beeindruckend, dass sie sich zum Teil überzogen anfühlen, insbesondere die melancholische Streichermusik hat einen Hang zum Kitsch. Unmerklich verflacht auch ein subtiler amerikanischer Patriotismus die Biographie, die eigentlich im Zentrum stehen sollte: die Kamera hat die Freiheitsstatue von einem Schiff aus im Blick und während man sehnsüchtige Musik vernimmt, berichtet sie von ihrem Traum nach Amerika zu kommen, dem Land der Freiheit und Demokratie. Es sind Einstellungen wie diese, die Ruth Westheimer aus den Augen verlieren und ihre Lebensgeschichte in die Nähe des Klischees rücken.

Weitaus beeindruckender ist ihre Reise nach Israel, wo sie ihre beste Freundin besucht und schließlich dem Verbleib ihrer Eltern nachgeht. Nervös buchstabiert sie dem Mitarbeiter des Archivs die Namen ihrer Mutter und ihres Vaters, beide registriert als ermordet im Holocaust. Der Eintrag ihrer Mutter ist versehen mit dem Vermerk „verschollen“, es ist nicht klar wo und wann sie gestorben ist. Ruth Westheimer ist sichtlich bewegt. Während sie einen Dank in das Gästebuch des Museums schreibt, sagt sie, mit starrem Blick auf die Seiten des Buches gerichtet, der Kamera ausweichend: „Deutsche Juden weinen nicht in der Öffentlichkeit, das machen wir zuhause.“

Sie hat, wie so viele andere Überlebende, ihren eigenen Umgang mit der Vergangenheit gefunden. Sie spricht nicht viel von der alten Zeit, stattdessen hat sie sich entschieden in beständiger Betriebsamkeit zu bleiben. Dass große Teile ihres Lebens durchzogen und überschattet sind von der traumatischen Erfahrung des Holocausts findet jedoch kaum Raum in der heiteren Erzählung mit Happy End. Ask Dr. Ruth webt eindringliche Zeitzeug:innen-Interviews mit der ungewöhnlichen Karriere einer faszinierenden Frau zusammen. Doch der Hang des Filmes zur oberflächlichen und stereotypen Erfolgsbiographie untergräbt zu großen Teilen die Vielschichtigkeit und Tiefenschärfe, die einem solchen Porträt gut getan hätten und machen den Film leider an manchen Stellen zu einem geradlinigen Feel-Good-Movie.

Fragen Sie Dr. Ruth (2019)

Ein Dokumentarfilm über das unglaubliche Leben von Dr. Ruth Westheimer, die den Holocaust überlebte und später zu Amerikas bekanntester Sexualtherapeutin wurde. Als sich ihr 90. Geburtstag nähert, stellt sich Ruth Westheimer erneut ihrer schmerzhaften Vergangenheit und ihrer steinigen Karriere als Speerspitze der sexuellen Revolution.

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