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Ein Unfall, ein totes Kind, ein Arzt, der sich schuldig fühlt – und die unüberblickbaren Auswirkungen von Gefühlen… „Eine moralische Entscheidung“ von Vahid Jalilvand spielt mit Ursache und Wirkung, mit Ehre und Moral und Schuld – ein leiser Thriller, der in die Nerven schleicht.

Eine moralische Entscheidung (2017)

Eine Filmkritik von Harald Mühlbeyer

Der Arzt unseres Vertrauens

Fein frisiertes, distinguiert ergrautes Haar, eine höchst seriöse Brille, hochkonzentrierter Blick, für den Stress und schnelle Entscheidungen längst schon Routine geworden sind: Dr. Kaveh Nariman fährt des Abends rasch in seinem Auto. Überholt. Von hinten ein Raser, ein Drängler mit Lichthupe – er drängt Narimans Wagen ab, rammt ihn, und der stößt gegen ein altersschwaches, schrottreifes Motorrad. Eine ganze Familie liegt am Straßenrand. Das Baby weint, die Mutter beruhigt die Kleine, der Vater schimpft, der Sohn hält sich den Kopf. Nariman untersucht ihn. Polizei lehnt er ab. Lieber gibt er Geld und ein paar unverbindlich tröstende Worte. Er unterhält sich mit dem Jungen. Rät eindringlich, mit ihm ins Krankenhaus zu fahren. Und hat das alles am nächsten Morgen fast schon wieder vergessen. Bis bei ihm – er ist Gerichtsmediziner – in der Pathologie die Leiche des jungen Ali-Amir auftaucht, Todesursache: unbekannt.

Eine Kollegin obduziert den Jungen. Lässt Befunde ins Labor bringen. All die Zeit über versteckt sich Nariman, vor den Eltern und vor sich selbst. Und kann nicht erleichtert sein: Offenbar ist die Todesursache eine Fleischvergiftung. Auf dramaturgisch geschickte Weise spaltet sich nun der Film auf: Nariman ist besessen davon, dass vielleicht bei der Obduktion eine Fraktur der oberen Wirbelknochen übersehen wurde, dass mit einer gewissen, sehr geringen Wahrscheinlichkeit der Unfall und damit er selbst den Tod verursacht hat. Derweil sieht sich Moosa, der Vater des toten Jungen, durch seine Frau und durch sich selbst dem Vorwurf ausgesetzt, dass er seinen Sohn durch den Einkauf dieses so billigen, aber offenbar vergammelten Hühnchenfleisches vor einer Woche in den Tod getrieben hat.

Taten und ihre Konsequenzen, Ursachen und Wirkungen, Schuld und Scham und Ehre und Gewissheiten – Vahid Jalilvand spielt in seinem zweiten Spielfilm mit den moralischen Fragen und insofern ist der deutsche Titel sehr irreführend: Es geht nicht um die eine Entscheidung, die irgendwelche Wege bestimmt, sondern um den Vielklang der Kleinigkeiten, der oft so disharmonisch ist, dass die einzelnen Töne einander verwischen und auslöschen. Da hat einer aus Gier alte Schlachtabfälle verkauft; da hat ein Raser ein Auto abgedrängt – und andere werden schuldig, durch diese Impulse, sie werden schuldig und können nichts dafür. Oder nur wenig. Und müssen jetzt doch mit den vollen Auswirkungen umgehen. Der eine sieht seine Ehre beschmutzt, will Fehler wiedergutmachen. Dem anderen liegt das Leben in Trümmern, mit totem Sohn, zerstörter Ehe – und mit Gefängnishaft. Denn die Justiz ist nicht mit den Kleinen, nicht ohne Beweise jedenfalls. Da weiß sich Moosa nicht anders zu helfen als mit Schlägen gegen den Gammelfleisch-Verteiler, und da ist dieser Schacht in den Keller, offen, ohne Schutzabdeckung…

Jalilvand eskaliert seine Geschichte langsam und kontrolliert, erzählt in ruhigen Bildern mit starken Hell-Dunkel-Kontrasten, nicht emotionalisierend, sondern beobachtend. Damit porträtiert er einerseits soziale Unterschiede wie auch Charaktere und Persönlichkeiten, die agieren und reagieren. Moosa, der arme Familienvater, und Kaveh, der angesehene Gerichtsmediziner: Beim einen geht es um alles. Der andere fühlt sich in seinem chauvinistischen Narzissmus angekratzt. Insbesondere er, Nariman, der hochstehende Mediziner, kann kaum umgehen mit Vorfällen, die jenseits seiner täglichen Routine liegen. Er hat hohe Ansprüche, er maßregelt Kollegen, er kann Fehler nicht zulassen. Er zieht sich in sich zurück – nicht nur im Fall des toten Ali-Amir. Seine Kollegin ist offenbar auch seine Lebenspartnerin, doch sie leben nicht zusammen. Er holt sie zur Arbeit ab, er bringt sie nach Hause. Sie sprechen miteinander, aber sie reden nicht über das Wichtige, über das, was Nariman beschäftigt. Und so, ungewollt, aber vielleicht doch irgendwo einkalkuliert, zieht das Tun und das Lassen immer weitere Kreise, bezieht immer mehr Personen ein. Und Nariman, der so gerne über alles die Kontrolle hat, geht seinen Weg weiter. Weil er nicht anders kann. Auch wenn der Weg über mehrere Leichen geht, über zerstörte Menschen und Beziehungen.

Filme aus „exotischen“ Ländern wie in diesem Fall dem Iran werden auf Filmfestivals wie in Programmkinos gerne ethnografisch gelesen. Als Einblick in eine so fremde und ferne Gesellschaft; das Produktionsland wird dabei stets mitgedacht. Eine moralische Entscheidung, und das ist das Gute daran, erzählt kein lokales Gesellschaftspanorama, keine Geschichtsstunde des Orient und keine distanzierende Fabel aus fernen Landen. Seine Geschichte, seine moralischen Klippen und ethischen Fragestellungen sind universell. Seine Filmsprache ist stilistisch genügend geschliffen und ausgefeilt, dass er auch und gerade ohne Kenntnis seiner Heimat funktioniert.

Eine moralische Entscheidung (2017)

Kaveh Nariman arbeitet als Gerichtsmediziner. Eines Tages landet ein Leichnam auf seinem Tisch, der ihm sehr vertraut vorkommt.

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