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In der von Guillermo del Toro produzierten Adaption einer Kurzgeschichte sucht ein mythisches Wesen eine Kleinstadt im Nordwesten der USA heim. Dabei pendelt der Film zwischen Horrorroutine und stimmungsvollem Provinzdrama, in dem häuslicher Missbrauch eine wesentliche Rolle spielt.

Antlers (2021)

Eine Filmkritik von Christopher Diekhaus

Schreckensort Familie

Das Musikerdrama „Crazy Heart“, der Rachethriller „Auge um Auge“, das Gangster-Biopic „Black Mass“ und der Western „Feinde — Hostiles“ – bislang hat sich Regisseur und Drehbuchautor Scott Cooper in ganz unterschiedlichen Genres ausgetobt. Auf seine Liste kommt nun auch ein Horrorstreifen, hinter dem mit Guillermo del Toro als Produzent einer der einflussreichsten modernen Schreckenskünstler steht. Die Adaption der Kurzgeschichte The Quiet Boy von Nick Antosca weckt schon deshalb Hoffnungen auf ein Leinwanderlebnis, das nicht nur auf aggressive Schocks vertraut. Obschon „Antlers“ in der zweiten Hälfte deutlicher konventionellen Schauerformeln folgt, hebt sich der Film dank seiner ernsthaft vorgetragenen Dramaelemente von der üblichen Multiplexkonfektionsware ab.

Ähnlich wie Auge um Auge die Gesetze des Vergeltungskinos nutzt, um von provinzieller Tristesse, wirtschaftlichen Nöten und familiären Sorgen zu erzählen, bedient sich Coopers fünfte Regiearbeit der Motive und Mittel des Horrorkinos, um das Thema des häuslichen Missbrauchs zu verhandeln. Im Mittelpunkt der Geschichte steht die vor kurzem in ihr Heimatkaff im Nordwesten der USA zurückgekehrte Lehrerin Julia Meadows (Keri Russell), der, das deuten fragmentarische Rückblenden an, als Kind Traumatisches widerfahren sein muss. Offenbar hat sie früher einmal ihr Heil im Alkohol gesucht, wie uns die verstohlen-schuldbewussten Blicke verraten, die sie in der Supermarktschlange auf die Flaschen mit dem hochprozentigen Inhalt wirft. Julia wohnt in ihrem Elternhaus bei ihrem Bruder Paul (Jesse Plemons), dem örtlichen Sheriff, würde sich aber gerne bald eine andere Bleibe suchen.

Ihre Alarmglocken springen an, als sie im Unterricht immer häufiger Auffälligkeiten an ihrem Schüler Lucas Weaver (Jeremy T. Thomas) bemerkt. Der Verdacht, dass sein Vater ihm etwas antue, steht schnell im Raum. Paul, den sie in ihre Befürchtungen einweiht, kann ihr jedoch zunächst nicht weiterhelfen. Durch den Prolog, in dem Weaver-Senior Frank (Scott Haze) in einem geheimen Crystal-Meth-Labor von einer übernatürlichen Kreatur attackiert wird, wissen wir zu diesem Zeitpunkt längst, dass bei Lucas etwas ganz und gar nicht stimmt. Warum genau er seinen Bruder Aiden (Sawyer Jones) und seinen Vater hinter einer Tür mit mehreren Schlössern einsperren und sie regelmäßig mit Nahrung versorgen muss, erschließt sich nach und nach.

Der Plot an sich ist nicht komplex. Gerade in den ersten 45 Minuten schlägt der auch am Drehbuch mitbeteiligte Cooper allerdings ein gemächliches Tempo an und verwendet viel Zeit darauf, dem Publikum ein Gefühl für den Handlungsort und dessen Bewohner*innen zu vermitteln. Der Anblick vieler brachliegender, der Witterung ausgelieferter Gebäude weckt Erinnerungen an den Verfall, der in Auge um Auge in einer ehemals pulsierenden Stahlregion zu beobachten ist. Auch Antlers spielt in einer Stadt, die früher einmal ein Industriestandort war, wo eine alte Mine nun aber nur noch als Crystal-Meth-Küche dient. In einigen Nebensätzen lassen die Figuren durchscheinen, wie tief die Verzweiflung der Menschen reicht und wie groß die Trostlosigkeit ist. Aus den Bildern des deutschen Kameramanns Florian Hoffmeister dringt ein Nässe und eine Kälte, die einem fast in die Knochen zu kriechen scheinen.

Verstärkt wird das Unbehagen durch das bedrohte Kindeswohl. Lucas lebt unter denkbar grausigen Bedingungen in einem heruntergekommenen Haus, ist völlig auf sich allein gestellt – und hat in der Vergangenheit einiges an Gewalt erfahren. Die Striemen auf seinem Rücken, die wir kurz zu sehen bekommen, sprechen eine unmissverständliche Sprache. Dass der ganze Schmerz – auch Julias Leiden – nicht platt daherkommt, sondern unter die Haut geht, liegt an den für einen Horrorfilm sicherlich überdurchschnittlichen Schauspielleistungen. Jeremy T. Thomas zeichnet, auch wenn er nicht viel redet, das Porträt eines verstörten Jungen, der sich nach Halt und Geborgenheit sehnt. Keri Russell lässt Julias emotionalen Ballast an mehreren Stellen hervorbrechen. Im Grunde reicht der US-Schauspielerin jedoch ein einziger Krankenhausmoment mit ihrem Kollegen Jesse Plemons, um die Verletzungen an die Oberfläche zu holen, die die von ihr verkörperte Lehrerin seit ihrer Kindheit mit sich herumschleppt.

Je mehr sich die Mechaniken des Horrorgenres durchsetzen, umso stärker lässt die bedrückende Wirkung nach. Das mythische Wesen, das die Weavers heimsucht, ist zwar durchaus furchteinflößend. In der zweiten Hälfte ruht sich der Film manchmal aber zu sehr auf bekannten Versatzstücken aus: Mindestens eine Figur läuft, alle Warnungen ignorierend, in ihr Verderben. Und natürlich gibt es auch einen Erklärbären, in diesem Fall einen unterforderten Graham Greene in der Rolle des ehemaligen Sheriffs, der die Hintergründe des Grauens kurz umreißt, wobei manche Fragen offenbleiben. In nach wie vor atmosphärischen Einstellungen steuert Antlers auf ein generisches Finale zu, dem die Wucht der ersten Dreiviertelstunde trotz einer für Julia schwerwiegenden Entscheidung abgeht. Wirklich frustrierend ist das nicht. Ein wenig bedauern darf man allerdings schon, dass der Film so einen noch überzeugenderen Eindruck verschenkt.

Antlers (2021)

Eine Lehrerin in einer Kleinstadt in Oregon und ihr Bruder, der der Sheriff ist, entdecken gemeinsam, dass ein Schüler ein gefährliches Geheimnis mit sich herumträgt, dessen Existenz fürchterliche Konsequenzen haben könnte.

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