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Bevor Niles Atallah „Rey“ schnitt und veröffentlichte, vergrub er die Filmrollen für mehrere Jahre in seinem Garten. Herausgekommen ist ein Film in verschiedenen Stadien der Verwesung. Eine Kino-Kontemplation über die Unzuverlässigkeit von Erinnerungen und offizieller Geschichtsschreibung.

Rey (2017)

Eine Filmkritik von Katrin Doerksen

Ein verlorenes Königreich

„Rey“ endet mit dem Insert: „Der Kampf der Indigenen dauert an.“ Aber wenn sich der Film für diskriminierte Minderheiten stark macht – wieso ist sein Protagonist dann ein weißer Europäer?

Rey basiert auf tatsächlichen Begebenheiten, soweit sich das eben nachweisen lässt. Wir schreiben das Jahr 1860. Der Anwalt Orélie-Antoine de Tounens (Rodrigo Lisboa) aus der französischen Provinz streift durch die Wälder Südchiles und Argentiniens. Hier in Feuerland will er das Königreich Araucana gründen – mit sich selbst als König der vereinten Mapuche-Völker. Wie es Tounens allerdings schaffte, die Mapuche für sich zu gewinnen – eine Ethnie, die als besonders feindselig galt – darüber schweigen sich die ohnehin raren, oft widersprüchlichen historischen Quellen aus. Lediglich seine eigenen Schriften und die Protokolle der Gerichtsprozesse, denen sich Tounens nach seiner Festnahme durch die Chilenen stellen musste, verraten uns etwas über ihn.

Der Film von Regisseur und Drehbuchautor Niles Atallah beginnt mit einem durch dichte Waldgebiete irrlichternden Mann. Vielleicht liegt wirklich etwas Wahnsinn in seinem Blick, womöglich ist es aber auch nur Entschlossenheit. Tounens Vorstöße in den Dschungel montiert Atallah parallel zu Verhörszenen, in denen sämtliche Figuren merkwürdig grobe Pappmachémasken nach dem Vorbild ihrer eigenen Gesichter tragen. Ein Verfremdungseffekt, der den Figuren das identifikatorische Potential raubt. Ein unnötiger Effekt, um ehrlich zu sein, denn die Hauptattraktion des Films erledigt diese Aufgabe zur Genüge.

Niles Atallah hat Rey auf Super-8, auf 16- und 35mm-Material gedreht und die zum Großteil im Jahr 2011 entstandenen Aufnahmen in seinem Garten vergraben. Das Resultat sind unterschiedliche Grade der Verwesung. Fleckige, zerkratze Filmstreifen, Farbverschiebungen, die aussehen, als hätte jemand die Negative cross-entwickelt. Luftaufnahmen von Gletschern, Nahaufnahmen von erblühenden Knospen, schlüpfenden Vögeln und Schlangen schmuggeln sich zwischen die Handlung, bei denen es unmöglich ist zu sagen, ob auch diese Bilder von Atallah stammen oder es sich um wesentlich ältere Found-Footage-Materialien handelt. An anderen Stellen wiederholen sich Szenen der Haupthandlung, die in kleinen Nuancen variieren.

Auf diese Weise stößt Rey ein Nachdenken über das Problem mit der Geschichtsschreibung, ja selbst mit der eigenen Erinnerung an. Es gibt immer eine offizielle Variante, der tatsächliche Wahrheitsgehalt steht auf einem anderen Blatt. Atallah interessieren solche Überlegungen und Gedankenexperimente deutlich mehr als die psychologischen Motive seines Protagonisten, über die wir ohnehin stets nur spekulieren können. Noch nicht einmal in seiner eigenen Zeit durfte Tounens schließlich auf Verständnis hoffen. Immer wieder deuten sich diese kommunikativen Barrieren in Rey in den Übersetzungsschwierigkeiten zwischen den Figuren an. Der Franzose Tounens spricht ein passables Spanisch, doch spätestens bei den indigenen Sprachen verlassen ihn seine Fähigkeiten. Verwirrte Blicke, grobe Schnitte suggerieren, dass auch sein Übersetzer nicht immer Herr der Situation ist.

Bis heute erkennt kein Staat auf der Welt das Königreich Araucana an, obwohl man tatsächlich argumentieren könnte, dass es existiere. Auf seinen Reisen hatte Tounens eine Verfassung, eine neue Flagge und eine selbst geschriebene Nationalhymne gleich mitgebracht, doch er wurde des Landes verwiesen und versuchte sein Lebtag lang erfolglos, nach Chile zurückzukehren. In der Ungerechtigkeit, die Tounens von Seiten eines weit überlegenen Gegners erfahren hat, spiegeln sich die Ungerechtigkeiten gegen die indigene Bevölkerung bei weitem nicht nur Patagoniens. Keine schwierige Quellenlage stellt ihre Existenz infrage, wir wissen von ihren Kulturen, ihren Traditionen und Territorien. Dennoch werden viele von ihnen marginalisiert, diskriminiert. Erzählt man die verrückte Geschichte des Orélie-Antoine de Tounens, so muss man zwangsläufig auch von ihnen erzählen – und von ihrem andauernden Kampf.

Rey (2017)

1860 reiste der Abenteurer Orélie-Antoine de Tounens durch die Wälder Südchiles und Argentiniens, um die Königreiche Araucana und Patagonien zu gründen – mit sich selbst als König! Als es ihm gelingt, das indigene Volk der Mapuche zu vereinigen, bekommt er gravierende Probleme.

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