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In seinem Kinodebüt porträtiert David Nawrath einen stoischen Möbelpacker, der urplötzlich aus seiner Monotonie gerissen wird. Das größte Pfund dieses stimmungsvollen Charakterdramas ist Hauptdarsteller Rainer Bock.

Atlas (2018)

Eine Filmkritik von Christopher Diekhaus

Zum Handeln gezwungen

Was passiert, wenn Menschen urplötzlich aus ihrer Komfortzone herausgerissen werden? Wenn sie ihre Zurückhaltung aufgeben müssen? Wenn ihr in festen Bahnen verlaufendes Leben schwer erschüttert wird, weil alte Schuld auf einmal wieder stark präsent ist? Um diese spannenden Fragen kreist das Kinodebüt des fernseherprobten Filmemachers David Nawrath, das den bedeutungsschwangeren Titel „Atlas“ trägt.

Der alleinlebende Ex-Gewichtheber Walter (Rainer Bock) muss – anders als der griechische, dem Film seinen Namen gebende Titan – nicht das Himmelsgewölbe stützen, hat im konkreten wie im übertragenen Sinne aber so manches Päckchen zu tragen. Tagein, tagaus verdingt sich der 60-Jährige in Frankfurt am Main als Möbelpacker für eine auf Zwangsräumungen spezialisierte Firma und scheint sich damit abgefunden zu haben, dass sein Chef Roland (Uwe Preuss) immer öfter zu unlauteren Methoden greift und sich neuerdings sogar mit einem Verbrecherclan einlässt.

Seine unschöne Vergangenheit holt Walter jedoch unerwartet ein, als er und seine Kollegen bei einem jungen Familienvater vor der Tür stehen. In dem renitenten Mieter, der seine Wohnung partout nicht räumen will, erkennt er seinen Sohn Jan (Albrecht Schuch), den er vor vielen Jahren das letzte Mal gesehen hat. Verunsichert hält sich Walter zunächst im Hintergrund, unternimmt später jedoch erste Annäherungsversuche, da er Jan in größerer Gefahr wähnt. 

Thematisch bewegt sich David Nawrath, der zusammen mit Paul Salisbury (Vorstadtrocker) das Drehbuch schrieb, nah am Puls der Zeit. Vor allem in den Großstädten ist die Lage auf dem Wohnungsmarkt regelrecht besorgniserregend. Die Mieten explodieren. Menschen werden ausgenutzt. Und unsaubere Machenschaften werden zunehmend geduldet. Atlas greift diese Probleme auf, spitzt sie zu, verkommt aber glücklicherweise nicht zu einem öden Thesenfilm, der seine kritische Haltung lang und breit auswalzt. Im Zentrum steht vielmehr das Porträt eines schweigsamen, stoischen Mannes, dem anfangs eine Beobachterrolle zufällt. Walter sieht, dass sein Chef illegale Mittel anwendet, greift nicht ein als der Gerichtsvollzieher Alfred (Thorsten Merten) verprügelt wird und will einfach nur seine Arbeit tun.

Dass sein berufliches Wirken eine persönliche, emotionale Dimension bekommt und er dadurch zum Umdenken bewegt wird, ist sicherlich ein klassischer Erzählkniff. Nawrath nimmt sich allerdings ausreichend Zeit, um Walters Hadern und seinen Wandel eindringlich zu beschreiben. Fast eine Stunde brodelt der in ausgeblichene Farben getauchte und an wenig glamourösen Schauplätzen spielende Film vor sich hin, wobei immer deutlicher wird, dass dem Möbelpacker seine früheren Versäumnisse schwer zu schaffen machen.

Die Figur eines neuen arabischstämmigen Mitarbeiters (bedrohlich: Roman Kanonik), der sein Temperament nicht zügeln kann, hätte sicherlich etwas differenzierter gezeichnet werden können. Und auch einige Handlungsschritte in der zweiten Hälfte lassen den nötigen Feinschliff vermissen. Das Interesse am Geschehen verliert man aber zu keiner Zeit, da der sonst oft in prägnanten Nebenrollen besetzte Rainer Bock eine berührend vielschichtige Performance abliefert. Obwohl sein Spiel meist erstaunlich zurückgenommen ausfällt, verraten kleine Blicke und Gesten einiges über Walters Innenleben. Besonders in Erinnerung bleiben die Momente, in denen der Protagonist abends in seine Wohnung kommt und sich vollkommen entkräftet auf den kalten Küchenboden legt. Der intime Rückzugsort eines Mannes, der auf seinen Schultern und auf seiner Seele schwere Lasten trägt.

Erfreulich ist, dass Atlas auch im Hinblick auf andere Beteiligte beinahe im Vorbeigehen, tiefere Einblicke in verletzte Gefühlswelten eröffnet. Ins Auge sticht in diesem Zusammenhang etwa ein Gespräch in den ersten Minuten, das unmissverständlich den Frust und die Enttäuschung Alfreds über das Verhältnis zu seiner Ex-Frau und seiner Tochter einfängt. Nicht zuletzt solche Beobachtungen tragen dazu bei, dass man die manchmal ein wenig schematisch wirkende Geschichte leichter verschmerzen kann.

Atlas (2018)

Zusammen mit seinem Speditionstrupp soll der Möbelpacker Walter, ein in die Jahre gekommener ehemaliger Gewichtheber, eine Wohnung räumen. Als sich die Tür des Altbaus öffnet, glaubt er in dem jungen Familienvater seinen Sohn zu erkennen, den er vor Jahren im Stich gelassen hat. Es beginnt eine vorsichtige Annäherung und ein folgenreicher Versuch, die junge Familie aus der Gefahr zu retten. (Quelle: Verleih)

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