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Was ist wichtiger: Der Schein oder das Sein? Katharina Mückstein schickt in „L’Animale“ eine Heranwachsende auf die Suche nach sich selbst. Was sie findet, ist nicht nur die Wahrheit über sich selbst, sondern auch die Lügen der Erwachsenen.

L'Animale (2018)

Eine Filmkritik von Joachim Kurz

Lebens- und andere Lügen

Sie malen Kreise in den Staub eines Steinbruchs – immer und immer wieder. Einfach um die Zeit totzuschlagen in diesem kleinen Dorf in Niederösterreich, in dem es sonst nicht viel zu tun gibt. Und das gilt erst recht, wenn man jung ist und eigentlich hinaus will in die Welt. Doch die Welt, die eigene kleine, hält einen davon ab, zerrt, klammert, überschüttet einen mit Erwartungen und Ansprüchen, die eines gewiss nicht sind: die eigenen.

Mati (herausragend: Sophie Stockinger) hat sich im Mikrokosmos des Ortes ihren eigenen Weg gesucht und ihn gefunden, indem sie sich über die Geschlechterrollen und -zuschreibungen hinweggesetzt hat. Sie ist das einzige Mädchen in der Motorradclique um Sebastian und kann sich in deren rauen Ritualen gut behaupten, wenn sie wieder einmal einen der Jungs in einem Crossrennen schlägt und dumme Sprüche mit viel Selbstbewusstsein kontert. Mati steht kurz vor der Matura und soll danach nach Wien gehen, um dort Tiermedizin zu studieren, wie ihre Mutter dies bereits zuvor getan hat. Und dann soll sie später einmal die Praxis von ihr übernehmen. Ob sie das überhaupt will, danach fragt hier erst einmal niemand.

Wie überhaupt in den Familien, von denen der Film erzählt, Schweigen herrscht: Schweigen über das, was den anderen wirklich bewegt, Schweigen über den schwulen Sex, den Matis Vater verstohlen sucht, Schweigen der Ehefrau, die ihren Mann zufällig dabei ertappt hat, ohne dass dieser etwas davon weiß. Schweigen und Sprachlosigkeit aber auch über die Gefühle, die Mati plötzlich für Carla empfindet, die schon allein wohnt und die im Supermarkt arbeitet, um später einmal die Matura nachholen zu können. Das gestammelte Geständnis von Sebastian, der sich in Mati verliebt hat und der eine mögliche Beziehung später bar jeder Romantik rein rational bestens zu begründen weiß, der aber mit der Ablehnung, die ihm Mati entgegenbringt, überhaupt nicht umgehen kann.

Die Unfähigkeit zum (ehrlichen) Gespräch, zur Kommunikation überhaupt, die über Formeln und Erwartbares, über plumpe Balzrituale in der Dorfdisco hinausgeht, wird ergänzt von anderen Unfähigkeiten: Dass ausgerechnet Matis Vater, der eigentlich Bauingenieur ist, den eigenen Hausbau nicht auf die Reihe bekommt, spricht Bände: So unbehaust wie er sich fühlt zwischen ehemännischer/väterlicher Pflicht und dem eigenen uneingestandenen Begehren, so nach außen proper und nach innen unfertig ist auch das Haus, das er mit seiner Frau und seiner Tochter bewohnt.

Katharina Mückstein erzählt von all dem, von dieser nahen und doch so fernen Welt mit unglaublichem Gespür für sprechende Details und Nuancen, für Bilder, die die ganze Weite der Leinwand zu nutzen und die es dennoch verstehen, Nähe und Intimität zu schildern. Mit großer Selbstverständlichkeit schickt sie die Kamera zu verschiedensten Settings und lässt den Zuschauern an all diesen kleinen Welten teilhaben: Die Schwulenparty am Badesee, das Eintauchen in den Beat von brachialen Technoklängen im dörflichen Club, die Steifheit einer abendlichen Essenseinladung der Erwachsenen, die Treffen der Crosserclique.

Das wirkt alles ganz natürlich und dann wieder exemplarisch im Sinne der Lebenswelt und der Geschichten und Lügen, von denen L’Animale unendlich viel zu berichten weiß – auf eine ganz reduzierte und zugleich enorm verdichtete Weise, die den Zuschauer durch alle Wendungen lotst und ihn nicht mehr loslässt. Ein unendlich kluger Film über das Heranwachsen, das Leben und die Lügen, denen man sich anscheinend im Laufe des Lebens ausgesetzt sieht. Ein Glück, dass Mati, wie es scheint, einen anderen Weg wählt. Für sie ebenso wie für diejenigen, die sie für die Dauer eines Filmes im Kino begleiten durften.

L'Animale (2018)

Mati und ihre Jungsclique sind die Coolsten im ganzen Dorf — mit ihren getunten Moped machen sie die Gegend unsicher. Doch als sich Sebastian, der Anführer der Gang, in Mati verliebt, wird es kompliziert. Außerdem sind da noch Matis Eltern, die ein Geheimnis mit sich herumtragen. Und das stellt sie vor eine schwerwiegende Frage. Ist es besser, den Schein zu wahren oder das Sein?

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