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In ihrem Essayfilm Tremor — Es ist immer Krieg lässt die Belgierin Annik Leroy die Stimmen verschiedener Poeten des 20. Jahrhunderts mit Aufnahmen vernarbter Landschaften verschmelzen. Als Leitsatz gelten ihr die Worte Ingeborg Bachmanns: „In dieser Gesellschaft ist immer Krieg.“

Tremor – Es ist immer Krieg (2017)

Eine Filmkritik von Katrin Doerksen

Das unwillkürliche Zittern der Erde

Nach einigen Minuten ist in Tremor — Es ist immer Krieg eine Trauerrede auf Pier Paolo Pasolini zu hören: „Wir haben einen Poeten verloren“, heißt es da sinngemäß. „Poeten sind selten, es gibt sie nur drei oder vier Mal im Jahrhundert.“ Die belgische Regisseurin Annik Leroy hat für ihren Film die Stimmen einiger Poeten des 20. Jahrhunderts zusammengetragen: Pier Paolo Pasolini ist darunter, aber auch die Schriftstellerin Ingeborg Bachmann, der Maler und Grafiker Fernando Nannetti oder die Autorin und Zeichnerin Barbara Suckfüll.

Sie erzählen oder lesen aus ihren Werken. Manchmal lesen auch andere Stimmen daraus vor und die Grenzen zwischen Augenzeugenbericht und Prosa, zwischen autobiografischem Text und Fiktion verschwimmen dann vollends. Ingeborg Bachmanns Zitat leiht dem Film seinen Titel: „Der Faschismus ist das erste in der Beziehung zwischen einem Mann und einer Frau […] Hier in dieser Gesellschaft ist immer Krieg.“

Wenn Annik Leroys Film von Krieg handelt, dann nicht ausschließlich in Form von fallenden Bomben, Drohnen und Schützengräben. Der Film denkt den Krieg vielmehr als einen Naturzustand. Er beginnt mit Aufnahmen eines Vulkans. Schwarze Erde und Asche, Geröll, aufsteigende Dämpfe. Die Kamera liegt auf der Seite, der Vulkan ist um 90° gekippt. Später werden wir die Küste sehen, Gesteinswüsten, Stadtansichten, verlassene und verfallene Gebäude. Orte, die vernarbt sind vom Einwirken der Natur oder der Menschen. Orte, von denen durchaus auch eine raue Schönheit ausgeht. Annik Leroy verweigert uns jedoch jeden noch so kleinen Anflug von harmonischen Postkartenansichten, immer wieder kippt sie die Kamera zur Seite oder gar auf den Kopf. Die sich einstellende Desorientierung ist vergleichbar mit dem Effekt, der aus den leicht geneigten Einstellungen in den Filmen von Heinz Emigholz resultiert, nur extremer. Außerdem dreht Leroy durchgängig in Schwarz-Weiß und in einem Bildverhältnis von 4:3 mit leicht abgerundeten Ecken. Das gibt einem das eigentümliche Gefühl, den Film auf einem Fernseher aus den 1960er Jahren zu schauen.

Wesentlich scheint sich seither ohnehin nichts verändert zu haben – und bis heute übertragen der Fernseher und seine Nachfolger jedes unrühmliche Geschehen in jedes Wohnzimmer, in jeden Kopf: Tremor — Es ist immer Krieg ist ein filmisches Gedicht, eine essayistische Form, die aus unzähligen Text- und Bildfragmenten so etwas wie eine unvollständige Geschichte, auch eine Kunstgeschichte Europas rekonstruiert. Keine besonders rühmliche Geschichte, das versteht sich von selbst. Den Faschismus zu thematisieren, ist dabei unumgänglich und überhaupt geht es dem Film ja auch um den Tremor – also ein unwillkürliches Zittern. „Hier in dieser Gesellschaft ist immer Krieg.“ In vielen Köpfen auch. Annik Leroy verweist uns immer wieder auf die Art brut, die Texte und Zeichnungen, die Barbara Suckfüll in einer psychiatrischen Klinik schuf, die Graffitos, die Fernando Nannetti mit einer Gürtelschnalle in die Wände der Irrenanstalt von Volterra ritzte.

Die Kunst scheint den einzigen Weg aus Terror und Chaos zu bieten. Bevor in Tremor — Es ist immer Krieg die Stimmen der Künstler ineinanderfließen, räumt Annik Leroy jedem Einzelnen lose Kapitel des Films ein, jeweils unterbrochen von einem Mann am Klavier. Er spielt Katzenmusik voller Dissonanzen und kontraintuitiver Pausen, völlig unmöglich einer Melodie zu folgen. Zuerst sehen wir seine Hände auf den Tasten, später seinen Nacken. Erst gegen Ende des Films seinen ganzen Oberkörper – vor sich auf dem Pult des Klaviers eine Partitur. Die Noten machen das Gehörte nicht leichter zugänglich, aber sie versichern uns, dass wir einem geordneten Chaos lauschen. Ständig ist in Tremor — Es ist immer Krieg die Rede von Macht: Macht, die die Faschisten über Minderheiten ausüben, Männer über Frauen, Erzieher über Kinder. Annik Leroy setzt ihr die Macht der Kunst gegenüber. Die Macht, mit den Mitteln der Intuition und des Intellekts eine wie auch immer geartete Ordnung in den Terror, und wenn schon keine Ruhe, dann wenigstens eine Gleichmäßigkeit in den Tremor der Welt zu bringen.

Tremor – Es ist immer Krieg (2017)

Die Origi­nal­stimmen von Pier Paolo Pasolini, Ingeborg Bachmann, Alberto Moravia, Sigmund & Anna Freud in einem kraft- wie kunst­vollen Essay zu Gewalt und Krieg. Ruinen, Terrains vagues und das Korn der 16mm-Schwarz­weiß-Bilder sind die Schau­plätze. Der Titel verdankt sich einem Dialog aus Ingeborg Bachmanns Malina.

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