Deutschland im Herbst (Blu-ray)

Eine Filmkritik von Simon Hauck

Was tun, wenn’s brennt?

Der Omnibusfilm ist zwar ein weniger bekannter, jedoch ständiger Begleiter der Filmgeschichte. Er entsteht oftmals im Kleinen, ohne große Anschubfinanzierung, ja nicht selten auch aus einer spontanen Gelegenheit heraus. Zugleich spiegelt sich in ihm in großer Regelmäßigkeit der jeweilige Zeitgeist einer bestimmten Epoche gekonnt wider. In Boccaccio 70, dem heute leider schon etwas vergessenen Gemeinschaftsprojekt der damaligen italienischen Regie-Elite um Fellini, Monicelli, De Sica und Visconti, manifestierte sich bereits 1962 der Aufbruchsgeist einer ganzen Generation: In einem Nachkriegsitalien, das in vier reichlich verschiedenen Episoden zwischen neuer Moral und alten Sitten hin und her pendelte.
Auch in jüngerer Vergangenheit versuchten sich diverse FilmemacherInnen immer wieder mal an dieser ungewöhnlichen Regie-Konstellation: Egal ob zum Teil mit großen Stars und in opulenter Bildsprache wie beispielsweise in Eros (2004), Paris, je t’aime (2006), New York, I love you (2008) oder auch mit deutlicherer Autorenfilmer-Konsequenz im kleineren Maßstab (z.B. bei 7 Tage in Havanna von 2012). Selbst im rein dokumentarischen Sektor schimmerte diese vielfach lose, trotzdem umso häufiger andersartige, mitunter sogar provokative Form des Filmemachens (z.B. in Fluchtrecherchen von 2016) in konstanter Beständigkeit auf.

Auch die erste deutsche Autorenfilmer-Garde setzte sich bereits mehrfach mit dieser anderen Art des Regieführens auseinander: Besonders prominent im kulturellen Filmgedächtnis in Deutschland im Herbst (1977/1978) als direkte Reaktion auf den Wahnsinn der „Landshut“-Entführung, die Ermordung des Arbeitgeberpräsidenten Schleyer durch die Rote Armee Fraktion (RAF) sowie den kollektiven Selbstmord der bekanntesten deutschen Terroristen in Stuttgart-Stammheim. Dieses experimentell angelegte und obendrein selten gezeigte Film-Dokument erscheint nun in gelungener digitaler Restaurierung zum ersten Mal auf DVD und Blu-ray.

Während zum Beispiel der 2009 durchaus ambitioniert geplante, aber bei der Berlinale weitgehend ausgebuhte Omnibusfilm Deutschland 09 bildlich gesprochen schnell ins Nirgendwo fuhr und dementsprechend mehr als nur ambivalent diskutiert wurde, war Deutschland im Herbst bereits in seiner Exegese ein künstlerisch mutiges Statement zur Lage der Nation. Oder um es in der Sprache Alexander Kluges, dem agilsten Befürworters dieses Projektes auszudrücken: Hiermit sollte bewusst eine „Gegenöffentlichkeit“ hergestellt werden.

Anstatt dem normalen Fernsehzuschauer nur weitere, weitgehend bedeutungslose Nachrichten-Bilder vorzusetzen, setzte das progressive Regie-Kollektiv um Kluge, Schlöndorff, Sinkel, Reitz und Fassbinder von vornherein auf 35mm-Material, die Form eines „offenen Kunstwerks“ (Umberto Eco) sowie einen teilweise kruden Mix aus visuellen Stilen und literarisch-narrativen Experimenten (z.B. in der von Heinrich Böll geschriebenen Antigone-Episode Schlöndorffs, die wie eine aktuelle Zensur-Satire daherkommt und gerade deshalb wenig angestaubt wirkt).

Während sich im Gesamtfilm manch andere, seltsam lieb- und leblose Beiträge (u.a. von
Edgar Reitz, Katja Rupé, Alf Brustellin und Bernhard Sinkel) wie zu schnell produzierte Fremdkörper verhalten, lohnt sich – wie so oft – ein genauer Blick auf Alexander Kluges Lesart der Ereignisse jenes extrem blutigen Herbstes 1977. In der von ihm gewohnt (auto-)reflexiv montierten Erzählform, die weite Bögen von der RAF zur NS-Herrschaft schlägt, die historisches Filmmaterial im Zuge bekannter Revolutionen des 20. Jahrhunderts mit den echten Bildern der Schleyer- wie der der Terroristen-Beerdigung mischt, beweist er ein weiteres Mal seine Ausnahmestellung als einer der führenden Intellektuellen des Landes.

Alleine Hannelore Hogers starke Performance als desperate Geschichtslehrerin Gabi Teichert in der neunten Episode lohnt einen weiteren Blick auf dieses wahrlich erstaunliche Gemeinschaftsprojekt. Infolge der Ereignisse jenes „Deutschen Herbstes“ zweifelt sie augenblicklich daran, „was sie denn nun unterrichten soll“ und kommt bei der „Suche nach den Grundlagen der deutschen Geschichte“ – mit sich selbst und den Umständen um sie herum – schnell ins Hadern: eine schauspielerische Glanzleistung – und zugleich eine prototypische Alexander-Kluge-Figur.

„Der kluge Herr Kluge“ (Rainer Werner Fassbinder) war es auch, der zuallererst die solitäre Sprengkraft von Fassbinders Beitrag erkannte, der beinahe vom Macher noch einmal zurückgezogen worden wäre: aus eigener Angst und Paranoia des Münchner Regie-Berserkers heraus. Als erster war er – wenig überraschend – mit der Kamera losgezogen, während die einen noch diskutierten oder andere – wie beispielsweise Werner Herzog – am Ende gar keine Episode zustande brachten. Und es war im Prinzip auch nur konsequent für sein exorbitantes Oeuvre, dass er logischerweise – und in echter Fassbinder-Manier – ebenso als erster fertig war: in lediglich zwei Tagen!

Mit einer extrem radikalen, einzigartigen filmemacherischen Tour de Force, die in ihren gut 35 Minuten zum Besten gehört, was der Neue Deutsche Film in den 1970er Jahren hervorgebracht hat! Alleine für dieses geradezu herausfordernde Wiedersehen mit dem nackten, paranoiden, koksenden und gleichermaßen rechthaberischen wie am Boden zerstörten RWF in seiner legendär finsteren Bunker-Wohnung in der Münchner Reichenbachstraße lohnt sich der Kauf dieser Neuedition. Nie war der deutsche Autorenfilm stärker in seinen Mitteln und näher an der Wirklichkeit als in dieser unsagbar kraftvollen Fassbinder-Episode.

Deutschland im Herbst (Blu-ray)

Der Omnibusfilm ist zwar ein weniger bekannter, jedoch ständiger Begleiter der Filmgeschichte. Er entsteht oftmals im Kleinen, ohne große Anschubfinanzierung, ja nicht selten auch aus einer spontanen Gelegenheit heraus. Zugleich spiegelt sich in ihm in großer Regelmäßigkeit der jeweilige Zeitgeist einer bestimmten Epoche gekonnt wider.
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