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Flüchtlingsdramen spielen sich in aller Welt ab. In seinem Debütfilm Pawo erzählt Marvin Litwak von einem Schicksal zwischen Tibet und Indien und gibt Denkanstöße auch für die Debatten in Deutschland.

Pawo (2017)

Eine Filmkritik von Verena Schmöller

Frei oder nicht frei im Exil

Im Exil wartet auf Flüchtlinge die vermeintliche Freiheit: Sie fliehen aus ihrem Land, in dem sie verfolgt werden oder in Unfreiheit leben, steuern ein freies Land an, werden aufgenommen und mit dem Nötigsten versorgt – Freiheit also, so denkt man. Die Hauptfigur in „Pawo“ sieht das anders.

Nach dem Tod seines Vaters bricht für Dorjee (Shavo Dorjee) und seine Familie eine Welt zusammen. Der Vater war ein eiserner Kämpfer gegen die chinesische Besatzung in Tibet gewesen, wurde eines Tages erwischt und von den Chinesen in ein Straflager geschickt, aus dem er körperlich gebrochen herauskam, den geistigen Widerstand aber bis zu seinem Tod nie aufgab. Die Familie ist – auch nach dem Tod des Vaters – stolz auf ihn, dennoch zieht ihr seine Abwesenheit den Boden unter den Füßen weg.

Der ältere der beiden Brüder, Genpo (Tenzin Jamyang), reagiert mit Wut und betrinkt diese immer häufiger am Abend beim Kartenspiel – wohlwissend um seine Verantwortung für die Familie. Dorjee dagegen bleibt ruhig und versucht, die Welt ebenso wie seine neue Rolle zu verstehen. Obwohl er der jüngere Bruder ist, ist es Dorjee, der zu Hause bleibt, die Mutter beruhigt und sich um die Jüngste, seine Schwester Chesa (Tashi Choedon), kümmert. Dann wird er eines Tages auf einer Demonstration festgenommen. Auch Dorjee kommt in ein Lager, wird gefoltert und kehrt, nachdem er von seiner Mutter ausgelöst wurde, als anderer Mann aus der Gefangenschaft zurück. Er ist überglücklich, seine Mutter und Geschwister wiederzusehen, doch seine Mutter macht ihm deutlich: Er muss gehen – über die Berge, nach Indien, ins Exil.

Dorjee geht nur widerwillig, weiß aber, dass es besser ist. Auch wenn das Gefühl bleibt, seine Familie und sein Land im Stich zu lassen, macht er sich auf die gefährliche Reise über die Grenze und die Berge. Alles geht gut, er kommt in Indien an und sucht dort seinen Cousin Kelsang (Tenzin Gyaltsen) auf, der schon Jahre vorher aus Tibet geflohen war. Zusammen arbeiten sie fortan in einem Restaurant und leben in einer kleinen Wohnung mit zwei weiteren Exil-Tibetern. Sie verfolgen von dort aus das Geschehen in ihrem Land, gehen auf die Straße, um für die Freiheit Tibets zu demonstrieren, und hoffen darauf, dass Tibet endlich wieder Tibet wird. 

Hintergrund des Familiendramas in Pawo ist also die Landesgeschichte Tibets: Die Machtübernahme durch China im Jahr 1949, die Gründung der Exilregierung in Indien 1959 und der seither schwelende Widerstand in Tibet. Immer wieder kommt es zu Protesten im Land, die 2012 mit der Selbstverbrennung tibetischer Freiheitskämpfer eine neue Dimension annehmen. Davon erzählt auch das Spielfilmdebüt des Dortmunder Regisseurs Marvin Litwak, der mit Pawo – das tibetische Wort für „Held“ – auch die Lebensgeschichte von Jamphel Yeshi nachzeichnet, der sich 2012 selbst anzündete, um auf die andauernde Situation in Tibet aufmerksam zu machen.

Pawo ist zunächst eine Familiengeschichte, die von den Auswirkungen der politischen Situation eines Landes auf das Leben einer Familie, der Eltern wie der Kinder, hat. Zuerst geht der geliebte Cousin, dann stirbt der Vater – Schicksalsschläge, die Dorjee letztendlich irgendwie verkraftet, die aber auch sein Weltbild erschüttern und formen.

Darüber hinaus ist Pawo aber auch ein Film über das Fliehen, die Anstrengung der Flucht für diejenigen, die fliehen, und den Alltag danach. Gerade hinsichtlich der Debatten, die in Deutschland und Europa geführt werden, tut es gut, die Sichtweise eines Geflüchteten einzunehmen, zu merken, wie schwer ihm das Weggehen fällt, wie sehr er darunter leidet und wie gefährlich, grausam und beschwerlich die Flucht selbst ist.

Im letzten Teil des Films geht es Pawo vor allem um den Begriff der Freiheit: Das wird überzeugend anhand der verschiedenen Figuren gezeigt, die ganz unterschiedlich mit ihrem Exildasein umgehen. Kelsang hat sein Schicksal akzeptiert: Nach seiner Flucht ist er in einer Siedlung von Exil-Tibetern gelandet, arbeitet und lebt dort, wie er es auch in Tibet tun würde. Er verfolgt das Leben in Tibet von der Ferne aus, telefoniert regelmäßig mit Verwandten zu Hause und demonstriert für die Freiheit Tibets. Ob er jedoch jemals zurückgehen würde, wenn Tibet die Souveränität erreichen würde, wird nicht deutlich. 

Tenzin (Rinchen Palzom) dagegen, die mit Dorjee zusammen geflüchtet ist, hat große Träume – für sie ist das Exil ein Meilenstein auf der Realisierung ihres Traums, Tänzerin zu werden, und die Eintrittskarte in ein viel besseres Leben, als sie in Tibet je haben könnte. Dorjee jedoch zerbricht daran, im Exil und „weg“ zu sein. Für ihn ist das Exil keine Freiheit, auch wenn er sich in Indien freier bewegen kann, als er es in Tibet könnte. Das Entscheidende ist für ihn: Er kann nicht zurück.

Pawo könnte also gut drei Filme bestücken. Und das ist auch seine Schwäche – dass er immer wieder einen neuen Strang aufmacht, aber keinen konsequent zu Ende denkt. Da wäre weniger mehr gewesen, zumal dem 120-Minüter auch eine kürzere Spiellänge gutgetan hätte. Die Themen aber, die der Film aufgreift, sind es allemal wert, auf einer großen Leinwand gesehen zu werden. 

Pawo (2017)

Nach dem Tod seines Vaters realisiert der junge Tibeter Dorjee, was es heißt, in seinem eigenen Land ohne Sprache, Kultur und Freiheit aufzuwachsen. Er beschließt zu handeln und wird während des letzten großen Aufstands der Tibeter verhaftet. Nachdem er von seiner Mutter freigekauft wurde, muss er seine Familie und sein Land verlassen und landet in Indien.

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Meinungen

Arnold P. · 15.04.2018

In München auf der Premiere gesehen, wahnsinnig toller Film!