Exodus - Der weite Weg (2017)

Eine Filmkritik von Silvy Pommerenke

Ein weiter Weg noch, bis ich frei bin!

Weltweit sind aktuell über 65 Millionen Menschen auf der Flucht. Eine Zahl, die kaum vorstellbar ist. Dana, Napoli, Bruno, Tarcha und Nizar sind einige von ihnen. Sie kennen den Geruch von Waffen, den Klang von Artilleriegeschossen und das Gefühl von Angst. Hank Levine, der sich unter anderem als Produzent von City of God einen Namen gemacht hat, gibt diesen Menschen eine Stimme.

Dana aus Syrien sitzt am zauberhaften Strand in Brasilien und spricht von Zerstörung. Syrien, ein Land, das von Vernichtung und Gewalt gekennzeichnet ist. Auch im Sudan herrscht Krieg. Die traumhaften Bilder der Landschaft stehen im absoluten Widerspruch zu den Erzählungen dieser Menschen, die von Krieg und Gewalt, von Flucht und Exil, von Sterben und Tod handeln.

Was heißt es für diese Menschen, wenn sie im fremden Land einen Asylantrag stellen müssen, um zu überleben? Was bedeutet es, wenn sie ohne Schlaftabletten nicht mehr schlafen können, weil die Traumata sie nachts wachhalten? Und wie fühlt es sich an, wenn man Jahre seines Lebens im Flüchtlingslager verbringen muss? Das sind nur einige der Fragen, die der Film aufwirft und gleichzeitig beantwortet.

Hank Levine stellt immer wieder ästhetisch schöne Bilder zauberhafter Landschaften – untermalt mit der Musik von Hauschka, aka Volker Bertelmann, der für sein präpariertes Klavier bekannt ist – grauenhaften Schilderungen seiner Protagonisten gegenüber. Das macht diese Schicksale etwas erträglicher für den Zuschauer und zeigt zugleich, dass die Anwesenheit von Schmerz nicht die Abwesenheit von Schönheit bedeuten muss. Genauso wie uns spielende und fröhliche Kinder daran erinnern, dass ein Leben – selbst in unwirtlichen Situationen – möglich ist. Kinder arrangieren sich scheinbar besser mit dem Krieg als die Erwachsenen.

Der Regisseur nimmt uns auf eine filmische Reise mit zu Müttern, die Videos von ihren verwundeten oder getöteten Kindern ansehen, zu Frauen, die mitten in der Wüste nach Landminen suchen und als einzige Absicherung ein Schutzschild vor dem Gesicht und eine beschusshemmende Weste vor der Brust tragen. Währenddessen stellt eine Stimme aus dem Off philosophische Fragen: „Ich weiß nicht, wohin ich gehe, ich weiß, dass ich noch nicht angekommen bin.“, „Was kostet ein Ort, an dem man atmen kann?“, „Wer hat das Recht, in Sicherheit zu leben?“, „Wer hat es verdient, in Angst zu sterben?“ oder „Was bleibt, wenn die Zeit hohl wird?“

Der Film zeigt aber nicht nur das Leid und Elend, das die Flüchtlinge erfahren haben, sondern vor allem, dass sie über eine unglaubliche Kraft und Energie verfügen. Sie geraten nicht in einen passiven Status, sondern agieren äußerst aktiv. Sei es, dass sie Schießübungen an der Waffe ausführen, Demonstrationen begleiten oder auf dem Podium lautstark für ihre Rechte eintreten.

Exodus — Der weite Weg zeigt individuelle Einzelschicksale, die doch stellvertretend für die Millionen von Flüchtlingen stehen. Sie alle eint die Erfahrung, ohne Heimat und auf der Flucht zu sein. Und sie alle haben nur den einen Wunsch: in ihre friedliche Heimat zurückzukehren und ein selbstbestimmtes Leben zu führen. Das Exil soll maximal eine Zwischenstation sein. Aber genau dieses Exil ist für viele ein großes Problem. Sie werden kriminalisiert ohne kriminell zu sein, sie werden in Lagern eingesperrt, sie haben keine Papiere und müssen stellenweise jahrelang auf eine Aufenthaltsberechtigung warten. Und selbst wenn sie sich schnell integrieren, fühlen sie sich oft nicht zu Hause.

Bisweilen eingestreute Untertitel erläutern die Situation der Flüchtlinge, mehr ist auch gar nicht notwendig. Denn man versteht sehr schnell als Zuschauer, worum es eigentlich geht. Da wäre zum Beispiel Dana aus Syrien, die gegen ihre Traumata angeht, indem sie sichtlich begeistert am Schießstand eine Handwaffe ausprobiert. Oder Napuli, die aus dem Südsudan stammt und sehr unerschrocken ist. Sie ist mittlerweile mit dem Deutschen Max verheiratet, den sie auf einer Demonstration kennengelernt hat. Sie sagt explizit, dass sie kein Opfer, sondern eine Aktivistin ist. Und das stimmt tatsächlich, denn sie ist unglaublich kämpferisch und selbstbewusst. Auch Bruno erhält eine Stimme im Film von Levine. Er ist in Togo geboren und lebte lange in einem Flüchtlingslager in Mecklenburg-Vorpommern. Auch Tarcha, aus der Westsahara, beweist sich ebenfalls kämpferisch. Ihr Mann wurde im Krieg getötet, und sie wurde von den Marokkanern gehindert, zurück in die besetzten Gebiete zu ihrer Familie zu gehen. Ihre Eltern und ihre sechs Geschwister sind tot. Sie gehören zu den Sahrauis, einer maurischen Ethnie, die perspektivlos in Flüchtlingscamps leben. Tarcha hat aber mittlerweile die Hoffnung verloren, zurück in die Heimat zu gelangen.

Einen besonders großen Raum erhält Nizar im Film. Er ist ein (ehemaliger) Medizinstudent und Palästinenser, der in Syrien geboren wurde. Wie Dana ist er ebenfalls nach Brasilien geflohen. Im Internet hat er herausgefunden, dass Brasilien allen syrischen Flüchtlingen humanitäre Visa garantiert. Zudem hatte er das Glück, dass ihm seine Familie die finanziellen Möglichkeiten verschaffte, nach Brasilien zu gelangen. Dort bekommt er sofort Anschluss durch Freunde seiner Eltern und trifft auch auf Dana. Sie spricht sehr beherrscht über ihre Erfahrungen des Krieges und trotzdem sind die traumatischen Auswirkungen bei ihr spürbar – auch für den Zuschauer. Während sie plant, nach Kanada auszureisen, ist Nizars Ziel Deutschland. Nicht nur, weil er hier weiter Medizin studieren könnte, sondern vor allem, weil er – wenn er einen deutschen Pass erhalten würde – nach Palästina reisen könnte. Er möchte das Land seiner Vorfahren sehen. Später gelingt es ihm tatsächlich, in das Erstaufnahmelager in Gießen zu fliehen. „Heimat, sie lebt noch in mir, ich träume von ihr! Ich werde sie wieder aufbauen … Ein weiter Weg noch, bis ich frei bin. Ein weiter Weg noch, bis nach Hause.“

Tumana, eine weitere starke Figur in diesem Dokumentarfilm, sucht nach Landminen. Die gezielt herbeigeführte Explosion einer von ihr aufgespürten Mine ist geradezu ästhetisch von Levine in Szene gesetzt. Wenn man nicht wüsste, dass es ein Dokumentarfilm ist, würde man denken, dass es sich um einen spannenden Wüstenthriller handelt.

Und genau diese immer wieder ästhetisch schönen Bilder helfen, diesen Dokumentarfilm – trotz des schrecklichen Inhalts – zu einem filmischen Highlight zu machen. Wenn auf diese Weise politisch brisanter Inhalt vermittelt wird, dann ist das Ergebnis äußerst überzeugend. Es hilft, die Schicksale weniger Menschen nachzuvollziehen, um sich darüber gleichzeitig ein umfassendes Bild von vielen Flüchtlingen zu verschaffen. Untermalt von der experimentellen Musik Hauschkas vermittelt Exodus ein vielfältiges Bild von Menschen auf der Flucht und im Exil, und von Träumen und Visionen. Ein Film, der nachhaltig wirkt und wichtig ist.

Es handelt sich bei Exodus – Der weite Weg um ein gesellschaftskritisches Epos, dass in ästhetisch schönen Bildern das Leid aber auch den Kampfeswillen von Flüchtlingen zeigt. Ein Kapitel, das noch längst nicht abgeschlossen ist…

Exodus - Der weite Weg (2017)

Hank Levine begleitete für seinen Dokumentarfilm „Exodus“ fünf Flüchtlinge von vier Kontinenten auf ihrem schweren Weg in ein neues Land. Über zwei Jahre dokumentierte er die verschiedenen Etappen, die sie auf ihrer Reise in ein neues Leben durchlaufen sind. Und dabei sind die Auslöser ebenso vielfältig wie die einzelnen Schicksale; Krieg, Terror, Armut als auch Verfolgung sind einige der Gründe, warum immer mehr Menschen die Flucht aus ihrer Heimat ergreifen.

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Meinungen

Diana · 25.03.2018

Best documentary ever!

do · 23.03.2018

Ich bezweifle doch sehr, dass Zuschauer*innen "sehr schnell", verstehen "worum es eigentlich geht"... An keiner Stelle gibt Hank Levine den Flüchtlingsaktivist*innen Napoli und Bruno eine Stimme - im Gegenteil, ihre Forderung und ihre jahrelangen politischen Aktivitäten werden ausgeblendet: Kein Bild vom Oranienplatz, auf dem Napoli und Bruno die Flüchtlingsproteste mit organisiert! haben, keine Erwähnung des Projekts für sogenannte "Mitwirkungspflichtverletzter", das Bruno für Langzeitgeduldete gestartet hat, keine Bilder der zahlreichen Demos gegen Asylrechtsverschärfungen, die Bruno mit organisiert hat....
Die systematische Entrechtung und Ausgrenzung von Flüchtlingen in Deutschland und ihr Kampf dagegen verschwindet so in einem Nebel von ästhetischen Bildern, philosophischen Texten über Heimat und Homestories mit Trommeln und Tanz...
Zum Glück brauchen Napoli Langa und Bruno Watara diesen Film nicht, um eine Stimme zu bekommen - sie haben nämlich eine eigene.