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Das ehemalige Hansestädtchen Demmin im östlichen Mecklenburg-Vorpommern: Alles so schön ruhig hier, gleich drei Flüsse fließen dort zusammen. Eigentlich ein Naturidyll, wären da bloß nicht die Rechten, die Linken, die Arbeitslosen – und der größte Massensuizid auf deutschem Boden.

Über Leben in Demmin (2017)

Eine Filmkritik von Simon Hauck

Und Pommerland ist abgebrannt

Es war einmal ein schönes Hansestädtchen: Demmin genannt und im idyllischen Pommerland gelegen. Feinstes Fachwerk und fröhliche Menschen überall, bis im Mai 1945 – in der eh schon monströsen Endzeitstimmung der letzten Kriegstage – auf einmal der böse Russe kam und alles vor Ort in Schutt und Asche legte. Die letzten Männer, sofern denn überhaupt noch welche da waren, wurden exekutiert, Frauen brutal misshandelt oder vergewaltigt. Und die Kinder erst: Viele von ihnen sollen von den Sowjets in den „wilden Osten“ verschleppt worden sein …

Wer einmal aus geschichtlichem Interesse die realen Fakten über jene besonders düsteren Tage in Demmin studieren möchte, dem muss man an dieser Stelle unbedingt das großartig recherchierte Buch des Historikers und Dokumentarfilmers Florian Huber empfehlen: In Kind, versprich mir, dass du dich erschießt (erschienen im Berlin Verlag) geht er ausgehend von dem wahnsinnigen Massenmord hunderter Demminer Ende April/Anfang Mai 1945 der Frage nach, wie es generell am Ende des Zweiten Weltkriegs zu einer derartigen „Selbstmordepidemie“ (Florian Huber) kommen konnte. Und zwar nicht nur im zitierten Pommerland, sondern parallel auch in mehreren Regionen und Städten des so genannten NS-Reichs. 

Wer sich dagegen aus Recherchegründen kurzzeitig im Netz mit reichlich kruder Online-Propaganda rechtsextremer Gesinnungsgruppen auseinandersetzt, die dort unverblümt, geradezu zynisch, ihre ganz eigene Art der „Wahrheit“ über die einst so stolzen Demminer im Angesicht der „mordenden Horden aus dem Osten“ verbreiten, wird gleich mehrfach vor den Kopf gestoßen. Erst recht, wenn man vorher Über Leben in Demmin von Martin Farkas gesehen hat. Auf diesen Websites werden nämlich historisch-wissenschaftliche Tatsachen reihenweise verwischt oder partout ins rechte Gegenteil verkehrt, um in deren Sprache zu bleiben. 

Wie es allerdings in diesem früheren Hansestädchen überhaupt zu einer derartigen Tragödie kommen konnte und warum es gerade dort möglich war, dass der perfide NS-Propaganda-Apparat Goebbelscher Prägung bis zum tödlichen Ende hin derart „gut funktionierte“, bleibt Farkas’ relativ uneinheitliche Regiehandschrift bis zum Ende hin schuldig. Natürlich vertraut der renommierte Allgäuer Kameramann (u.a. von Dominik Graf, Markus Imboden, Matthias Tiefenbacher) in erster Linie auf die Erzählkraft seiner (Regie-)Bilder, die an dieser Stelle von Roman Schauerte stammen und Über Leben in Demmin zumindest in der ersten halben Stunde dramaturgisch noch ganz ordentlich strukturieren, ehe auch deren Macht im Anschluss ziemlich rasch verblasst. 

Schlichtweg zu oft und vor allem zu gewollt hört man die Fragen des Regisseurs aus dem Off an den einzelnen Drehorten, wenn wieder einmal auf narrativer Ebene wenig oder kaum etwas weitergehen mag, was weniger das Betrachten, sondern das Zuhören in diesen manchmal quälend langen Einstellungen insgesamt recht unangenehm macht. 

Dabei ist Farkas’ Herangehensweise als Dokumentarfilmer an sich schon die richtige: In seinem Film kommen beileibe nicht nur die Opfer („Es sind ja keine schönen Erinnerungen … Eigentlich hat man diese Zeit ja begraben.“) zu Wort, sondern auch gewöhnliche Passanten, Handwerker und auch junge Familien aus der rechtsextremen Szene, die sich über linke Demonstranten geradezu selbstentlarvend echauffieren („Da müsste man gleich mit dem Maschinengewehr durch“) – und im selben Moment mit ihrem Sohnemann am Spielplatz herumtollen. 

Bis heute finden nämlich in regelmäßigen Abständen Demonstrationen von Rechtsnationalen in dieser mecklenburgischen Kleinstadt statt: Speziell am 8. Mai in Form von „Trauerzügen“, was in der Tat gespenstisch aussieht. „Wir verraten euch nicht“ steht auf deren Trauerschleifen, die später auf makabre Weise genau an den Flussstellen ausgesetzt werden, wo sich in jenen letzten Tagen des Zweiten Weltkriegs mindestens sechshundert Menschen das Leben nahmen. Viele von ihnen, im Speziellen die Demminer Frauen, hatten sich schwere Steine umgebunden und waren damit ins Wasser gegangen: Nicht selten zusammen mit ihren Kindern, wenn sie die nicht eh schon vorher an Land erschossen hatten – eigenhändig. 

Die böse Fratze des Zweiten Weltkriegs zeigt hier thematisch nochmals ihre ganze Rohheit, das sieht, hört und spürt man sehr wohl in einigen bemerkenswerten O-Tönen des Films: „Es sind ja eigentlich keine schönen Erinnerungen … Eigentlich hat man diese Zeit ja begraben.“ / „Die haben sich dann meine Mutter geschnappt…“ / „Die Russen hatten das Haus angesteckt.“ / Was da passiert ist? Ich bin auch mit dem Gewehrkolben geschlagen worden … Aber ich möchte da nicht darüber sprechen.“ 

Allein es fehlt trotzdem einfach insgesamt zu oft der große Zusammenhang und die persönliche Einordnung des historischen wie gegenwärtigen Geschehens in diesem sehr speziellen Stückchen Mecklenburg-Vorpommers, so dass man beim Betrachten von Über Leben in Demmin ständig das Gefühl hat, dass sich Martin Farkas bei diesem Projekt als Autor nicht entscheiden konnte, ob das Ganze nun ursprünglich ein zeitgeschichtlicher relevanter Dokumentarfilm über einen bösen Ort und seine irreversible Vergangenheit werden sollte oder einer über seltsame Massenzwänge in der lokalen rechten Szene. Oder ein politisch konnotierter Film über Dauerdepressionen in der Nachwende-Zeit, die bis heute anhalten, oder am Ende doch einer über bürgerrechtliches Ansinnen und zivilrechtlichen Anstand einiger weniger vor Ort. 

Zu den letztgenannten gehört auch Hans-Jürgen Syberberg, der gleich nebenan in Nossendorf wohnt und ebenfalls mehrmals im O-Ton zu hören ist. „Das Anstößige ist das wahrhaft Produktive“ steht programmatisch auf dessen Filmemacher-Website, was unfreiwillig, aber sehr treffend, die Problematik wie die Zähigkeit dieses Films in passende Worte fasst. Denn reichlich „Anstößiges“ – damals wie heute – hatte Martin Farkas hier sehr wohl auf vielfältige Weise vorgefunden. Nur der zweite Teil des Zitats erfüllt sich in Überleben in Demmin einfach nie: Eigentlich sehr schade. 

Über Leben in Demmin (2017)

Nach Ende des Zweiten Weltkrieges kam es in Demmin, in Mecklenburg-Vorpommern, zu dramatischen Ereignissen, denen noch bis heute die Einwohner des Ortes jährlich gedenken. Damals wurde die Kleinstadt der Roten Armee überlassen und aus Angst vor der Gewalt der sowjetischen Soldaten, begingen ca. 900 Bewohner Selbstmord. Martin Farkas dokumentiert mit seinem Film, wie präsent dieses tragische Kapitel noch immer ist.

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Meinungen

Christiane · 22.03.2018

Als ich eben die Vorankündigung gelesen habe, ist mir der Atem gestockt. Ich bin in Demmin 1948 geboren. Meine Großeltern haben sich damals das Leben genommen beim Russeneinmarsch. Auch wenn man nicht dabei war, schleppt man diese Geschichte mit sich. Das Buch von Huber liegt über meinem Bett. Nach den ersten 20 Seiten konnte ich nicht weiterlesen. Ich werde diesen Film ansehen, aber ob ich ihn bis zum Schluss ertrage, weiß ich nicht. Meiner Mutter habe ich weder vom Buch noch von diesem Film erzählt und werde es auch nicht tun.
Aus diesem Grauen kann man nur als Pazifistin hervorgehen, nie und nimmer als rechtspopulistischer Geschichts-Knallkopf.

betty prell · 15.02.2018

Ich hoffe der Film ist nicht so zynisch wie dieser Text, vor allem der fett gedruckte Text ist wirklich schlimm. Eigentlich ist ein Film über diese Tragödie längst überfällig und ich erwarte, dass die Filmleute, die dem Autor dieses Artikels offensichtlich zu wenig Erklärungen ab gegeben haben, sensibel mit dem Thema um gegangen sind.

Leon · 15.03.2018

Ich hatte das glück auf einer preview dieses films gewesen zu sein.
Und deine angst ist unangebracht.
Martin farkas hat es geschafft diese story mit einer feinfühligkeit zu erzählen, dass es einem so vorkam als sei man selbst in diesem dorf.
Aufjedenfall anschauen