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Zwei Schülerinnen freunden sich nach Jahren der Distanz wieder an. Lily kommt aus wohlhabenden Verhältnissen, Amanda ist eine schräge Außenseiterin, die kaum Emotionen empfindet. Gemeinsam beschließen sie, Lilys Stiefvater zu ermorden. Doch ob sie einander wirklich vertrauen können, ist unklar …

Vollblüter (2017)

Eine Filmkritik von Lucas Barwenczik

Gibt es echte Tränen im Falschen?

Die „Reichen und Schönen“ sind nicht nur sprachlich eine Einheit. Wer vermögend ist, lebt statistisch gesehen länger, gesünder und glücklicher. Der Soziologe Pierre Bourdieu argumentierte, Kapital würde irgendwann Teil des Körpers; H.G. Wells ließ in Die Zeitmaschine Ober- und Unterschicht zu zwei verschiedenen Spezies werden.

Überlegungen dieser Art sind Cory Finleys Debütfilm Vollblüter nicht fremd. Zwischen dem überirdischen Eloi-Antlitz der jungen Lily (The-Witch-Star Anya Taylor-Joy) und der mit Bartfetzen übersäten Morlock-Fratze des erfolglosen Drogendealers Tim (Anton Yelchin in seiner letzten Rolle) liegen Welten. Er ist für Lily lediglich ein Werkzeug – so wie sie möglicherweise eines in den Händen der gefühllosen Amanda (Olivia Cooke) ist … 

Umbrüche bringen die ehemaligen Klassenkameradinnen nach Jahren wieder zusammen. Es entsteht so etwas wie eine Freundschaft, vielleicht aber auch nur ein brüchiges Bündnis von Unzufriedenen und Ziellosen. Amanda bemerkt, wie sehr sich Lily über ihren Stiefvater Mark (Paul Sparks) ärgert. Kurzerhand schlägt sie vor, ihn zu ermorden. Auf einer Party treffen sie Tim, der von den wohlhabenden Feiernden angegangen wird wie ein Krankheitserreger von Leukozyten. Er – der in ihren Augen Wertlose — soll den Plan in die Tat umsetzen.

Welche Wünsche und Empfindungen dabei echt und welche erfunden sind, ist schwer zu erkennen. Amanda erzählt von sich selbst, sie empfände keine Gefühle. Die Behandlung der Ärzte erscheint ihr wie Willkür, Medikamente und Krankheitsbild wechseln in regelmäßigen Abständen. Tränen fließen bei ihr wie auf Knopfdruck, alles eine Frage der richtigen Technik. Das Zusammenspiel von Cooke und Taylor-Joy ist das pochende Herz des Films. Die ewige Frage ist: Wer manipuliert wen, wer spielt wann was, wer ist ehrlich und warum? Wer lernt, wer lehrt?

Der Film beginnt bei Amanda und bleibt ihr am nächsten, ihre Fremdartigkeit bestimmt den Ton. Amandas Bewegungen entziehen sich der Choreographie traditioneller Umgangsformen. Die bestehenden Grenzen und Moralvorstellungen haben für sie keine Gültigkeit. Ihr fehlt das Abwägende, die Trägheit zwischen den Gesten – jede neue kommt, als hätte es die vorige nicht gegeben. Immer wieder verweilt die Kamera auf ihr, erfasst von einer unnatürlich langen Regungslosigkeit. Die Welt steht mit ihr still, bis diese Stagnation Gewohnheit wird und jede weitere Regung zum Schock wird. Dann geht alles schnell: Sie dringt in jeden persönlichen Schutzbereich ein, schnellt ruckartig zu ihrem Gegenüber hin, einem Raubtier gleich. 

Der Schnitt reproduziert diesen fremdartigen Rhythmus. Der Film ist langsam und schnell zugleich. Für sich stehend mögen die Szenen elongiert wirken, die simple Handlung schreitet dennoch konsequent und unbarmherzig voran. Der Plot ist eine Triebkraft des Films, aber nicht sein Kern.

Finley kann bereits in seinem Debüt mit einer sehr klaren Bildsprache aufwarten. Bestimmte Bildkompositionen wiederholen sich: Zweiereinstellungen im Profil, Auge in Auge, vermitteln ein Gefühl von Konfrontation und latenter Gewalt. Begegnungen sind Duelle. Kubrickesque Steadycam-Verfolgungsfahrten suchen nach dem Menschen im Mittelpunkt eines Gebäudes, den Gänge und Inneneinrichtung bereits angekündigt haben. Sie verschmelzen mit diesem Menschen und definieren ihn. Symmetrisch geordnete Skulpturen und Lampen suggerieren die Ordnung und Gefasstheit, welche die Figuren längst verloren haben, langsame Zooms bebildern schleichende Veränderungsprozesse. Es sind visuelle Entsprechungen von Amandas kalter Präzision, die zunehmend auch Lily erfasst. 

Dieser Stil hat natürlich etwas Epigonisches und stellt sich deutlich in eine Reihe mit jenen Arthouse-Thrillern und -Horrorfilmen, die Festivalpublika und Kritiker in aller Welt in den vergangenen Jahren überzeugen konnten. Die Art von „elevated horror“, die auch immer die Frage aufwirft, ob man wirklich etwas erhebt oder nur den Wunsch verspürt, Vorhergehendes zu erniedrigen. Die Alleinstellungsmerkmale von Vollblüter sind zum einen die elegant-ruppigen Dialoge, die auf Corey Finleys Theatervergangenheit verweisen, zum anderen die satirischen Nadelstiche gegen das gewählte Milieu. 

Der Film ist verliebt in Absurdität und Horror des Reichtums. In die mentale und intellektuelle Verwahrlosung, die das widerstandslose Leben mit sich bringt. Der konservative Denker Edmund Burke rechtfertigte angehäufte Besitztümer mit der Schönheit, die sie unweigerlich in die Welt brächten. Die Erhabenheit von Monumenten, Schlössern und Anwesen käme auch dem Niedersten zugute. Bei Finley werden sie zu grotesken Mausoleen mit Sonnenbank-Särgen und einer gespenstischen Dienerschaft. Wenn Lily eine angefangene Chipstüte in der Küche liegen lässt, wird diese, noch während sie den Raum verlässt, in den Unschärfen des Hintergrunds fortgeräumt. Eine Apple-weiße Schönheitsfarm erstrahlt als klinischer Alptraum. Herrenmenschlich blickt die Kamera mit Lily auf die beiden Fußpfleger herab, die vor ihr wie vor einer Feudalherrin knien. Marks Tennis-Training mit der Ballwurfmaschine wirkt einsam und verloren, der Lärm seines Ergometers beweist, dass er seinen Selbstverbesserungswahn nicht für sich behalten kann. In seinem Büro hängen Bilder von der Großwildjagd und Samuraischwerter, lächerliche Echos des Heldenlebens, von dem er träumt. Lilys Mutter (gespielt von Francie Swift) ist kaum präsent und scheint in den wenigen Momenten, während der sie auf der Leinwand ist, langsam transparent zu werden.

Vollblüter stehen am Ende einer langen Zuchtkette. Es ist der Wahnsinn eines überzüchteten Adelsgeschlechts, ein modernes Haus Usher. Cory Finleys traut den „Reichen und Schönen“ nicht, doch lässt sie nie einfach nur böse und falsch auftreten. Gerade in der Beziehung zwischen Lily und Amanda liegt, tief verborgen unter Schichten des Zynismus, auch eine aufrichtige Sehnsucht nach menschlicher Nähe. Die düstere Erkenntnis, die mehr und mehr hervortritt: Ob ihre Gefühle authentisch sind, ist unter den gegebenen Umständen egal. Die Tränen mögen falsch oder sogar echt sein, ein Werkzeug sind sie trotzdem.

Vollblüter (2017)

Nachdem sie sich jahrelang nicht gesehen haben, begegnen sich Lily und Amanda, die in ihrer Kindheit miteinander befreundet waren, wieder. Lily ist mittlerweile zu einem typischen Mädchen der besseren Gesellschaft geworden, die eine sündteure Privatschule besucht. Amanda hingegen hat sich vollkommen anders entwickelt und gefällt sich in der Rolle der rebellischen Außenseiterin. Zwischen den beiden eigentlich grundverschiedenen jungen Frauen entwickelt sich ein Band der Freundschaft. Doch die Verbundenheit entwickelt zunehmend zerstörerische Tendenzen — und die richten sich vor allem gegen Lilys verhassten Stiefvater Mark.

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