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Eine Hungerkrise in naher Zukunft bedroht in Semih Kaplanoğlus Film „Grain – Weizen“ die Existenz der Menschheit, bis sich ein Mann auf die Suche nach den Ursachen macht und erkennen muss, dass er nicht Teil der Lösung, sondern des Problems ist.

Grain - Weizen (2017)

Eine Filmkritik von Joachim Kurz

Die Reise ans Ende der Welt

Sieben Jahren lang war es still um Semih Kaplanoğlu, den einstigen Gewinner des Goldenen Bären für Bal — Honig. Sein neustes Werk „Grain — Weizen“, das seine Weltpremiere 2017 im Wettbewerb des Filmfestivals in Sarajevo feierte, markiert zugleich Wandel und Kontinuität im Schaffen des türkischen Ausnahmeregisseurs: Neu sind seine Hinwendung zum Genre des Science Fiction (auch wenn der Regisseur das anders sieht) und die Ansiedlung in einem größeren zeitlichen wie räumlichen Setting; geblieben sind hingegen sein Gespür für große Bildern, sein langsamer Rhythmus und das Verträumt-Grüblerische, das hier reichlich düstere Züge trägt. 

In der Welt der nahen Zukunft, von der Grain — Weizen erzählt, haben Großkonzerne die Herrschaft über die Menschheit übernommen. Der sich bereits in unserer Gegenwart abzeichnende Prozess des Abschieds des Politischen zugunsten des Ökonomischen ist vollzogen, ebenso wie der Klimawandel, der weite Teile der Erde zu Ödland hat werden lassen. Die Eliten des Planeten haben sich in schwer bewachte Schutzzonen und Städte zurückgezogen, die vom Militär und von magnetischen Sperranlagen hermetisch von der Außenwelt abgeschirmt werden, während die weniger Privilegierten durch die sogenannten Dead Lands streifen. Nun aber ist auch die Ordnung innerhalb der Schutzzonen gefährdet, immer wieder kommt es zu Missernten, weil seltsame Mutationen die normierten und gentechnisch veränderten Agrarprodukte befallen haben. 

Bei seiner Suche nach den Ursachen für die Missernten stößt der Biologe Erol Erin (Jean-Marc Barr) auf eine unter Verschluss gehaltene Abhandlung des Genetikers Cemil Akman (Ermin Bravo), der zu dem Schluss gekommen ist, dass ohne genetische Vielfalt kein Leben auf Dauer möglich sei. Doch um mehr über diese Theorie zu erfahren, muss Erin die Schutzzone heimlich verlassen und den in Ungnade gefallenen Kollegen aufsuchen, der in die Dead Lands geflohen ist. Es wird eine Reise voller Gefahren, an deren Ende Erin mit Hilfe von Akman die wahren Ursachen und die vielfältigen Abhängigkeiten und Zusammenhänge erkennen wird. 

Auf drei Kontinenten gedreht und mit einem international besetzten Cast ausgestattet, ist Grain — Weizen gleichermaßen ein Film für die Augen und den Kopf. Die von Giles Nuttgens geführte Kamera findet eindrucksvolle und ausdrucksstarke Schwarz-Weiß-Bilder voller Majestät und Größe, sie versteht es, ein Weizenfeld mit der gleichen Eindringlichkeit einzufangen wie den maroden Charme von Ruinenstädten. Die Bildkompositionen erinnern nicht nur an biblische Motive (ein brennender Baum etwa), sondern lassen auch den enormen Einfluss erahnen, den Andrej Tarkovskij auf Semih Kaplanoğlus Schaffen seit jeher hatte. Nun scheint es, dass vielleicht genau dafür so viel Zeit nötig war: sich diesem großen Vorbild, diesem kinematografischen Übervater noch weiter anzunähern. Die Ähnlichkeit mit dessen Meisterwerk Stalker ist jedenfalls in fast jeder Minute des Films deutlich zu spüren. 

Möglicherweise liegt darin auch die Tragik dieser filmischen Reflexion über das Leben, das Vergehen und das Sterben begründet: solche Filme machen heute in der Flut der aufgepumpten Spezialeffekte und der inflationären Behandlung von Apokalypse und Dystopien im Kino nicht mehr jenen Eindruck, den sie früher ausübten. Das hängt womöglich aber auch ein wenig mit den doch sehr bedeutungsschweren Dialogen zusammen, die in jedem Wort, jedem Satz Tiefe und Nachdenklichkeit über das Wesen der Welt ausdrücken – und zwar oft genau dann, wenn man sich eigentlich nur in die phantastischen Bilder hineinfallen lassen will.

Filme wie Grain findet man daher mittlerweile nur noch selten im Kino. Ihnen scheint abseits der Logiken des Marktes nur noch ein Schattendasein bei ambitionierten Festivals oder in den letzten Tempeln der Filmkunst wie den Kommunalen Kinos vergönnt zu sein. Umso erfreulicher ist es, dass es der Film allen Widrigkeiten zum Trotz dennoch (in einer vermutlich verschwindend geringer Anzahl an Vorführungen) auf die deutschen Leinwände schafft. Obwohl Grain — Weizen von der Zukunft erzählt, fühlt er sich an (und sieht teilweise auch so aus), als stamme er aus der Vergangenheit, dem goldenen Zeitalter des Kinos. 

Und so erzählt Semih Kaplanoğlu in seinem Film nicht nur vom Hunger nach Nahrung, sondern auch vom Hunger nach dem Kino selbst: Nach seinen Bildern, seinen Geschichten und der Suche nach Sinn und Sinnlichkeit in einer Welt, die Überfluss behauptet und Mangel produziert. Dass uns dies manchmal recht metaphernschwer und dialoglastig erscheint, sagt deshalb vielleicht mehr über die Wandlungen des Kinos in den vergangenen Jahren als über den Film selbst aus.

Grain - Weizen (2017)

In der nahen Zukunft hat ein abrupter Klimawandel das Leben auf der Erde nahezu unmöglich gemacht, statt der Regierungen sind es nun Konzerne, die überwiegend die Kontrolle übernommen haben. Die Städte, die noch einigermaßen intakt sind, werden durch Magnetschilder vor den Zuwandererströmen der Verzweifelten geschützt. Doch dann kommt es zu einer rätselhaften Mutation, die alle Pflanzen bedroht und so muss sich ein Genetik-Professor auf eine gefährliche Reise ins Ungewisse machen. „Grain“ ist der neue Film des türkischen Regisseurs Semih Kaplanoğlu, der 2010 mit seinem Film „Bal — Honig“ den Goldenen Bären gewann.

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Meinungen

Elroy · 16.12.2020

Verdient auf jeden Fall das Prädikat "Besonders Wertvoll". Endlich mal wieder ein kritischer Film mit Tiefgang und Grips. Danke an die Macher!